Röbke, Peter

Was hat El Sistema mit Klavierunterricht in Dinkelsbühl zu tun?

Überlegungen zur Reichweite des „Lernens in der musikalischen Praxisgemeinschaft“

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 6/2011 , Seite 08

Eintausend Bläserklassen in Deutsch­land, zweihunderttausend Kinder bei JeKi im Ruhrgebiet, unzählige Koope­rationsprojekte zwischen Schule und Musikschule – wir sind Zeugen einer durchaus auch heiklen musik­päda­gogischen Situation, die für die Instrumentalpädagogik eine Heraus­forderung darstellt. Doch könnte nicht das Lernen bei JeKi (bzw. überhaupt das Lernen in Kooperationsprojekten von Musikschulen und Schulen) eines sein, das die Bedingungen dieses Lernens nicht beklagt (“Einzelunterricht an der Musikschule wäre uns lieber”), sondern offensiv nutzt? Könnten nicht an Grundschulen, an denen flächen­deckend musiziert wird, so etwas wie “musika­lische Praxisgemeinschaften” entstehen?

Bläserklassen beanspruchen, nicht nur frühes Musizieren in der Besetzung des sinfonischen Blasorchesters zu bieten, sondern auch für die Vermittlung instrumentaler Fertigkeiten zu sorgen; JeKi stellt nicht nur den Versuch dar, alle Kinder einer Alterskohorte mit Musik zu erreichen, sondern hat auch den Anspruch, instrumentalpädagogische Grundlegung zu sein. Selbst wenn man den Projekten mit einer positiven (sozial-)politischen Grundhaltung entgegentritt (Reinhart von Gutzeit sprach in Ausgabe 4/2011 dieser Zeitschrift von der „Jahrhundertchance“ JeKi; und wer wollte ernsthaft behaupten, dass es falsch sein könnte, in diesen Projekten auch Kinder aus bildungsfernen Milieus bzw. solche mit Migrationshintergrund zu erreichen?): In der Fachdebatte überwiegt die Sorge, inst­rumentalpädagogischer Dilettantismus könne zum Zuge kommen. Und wenn ernsthafter Instrumentalunterricht eigentlich nicht möglich sei, dann bleibe nur eines: JeKi (und auch den Bläser- und Streicherklassen) müsse ein Ort weit vor dem eigentlichen Instrumentalunterricht zugewiesen werden. Nicht einmal eine wirkliche Vorstufe zum instrumentalpädagogischen Kerngeschäft werde betreten, sondern JeKi solle sich auf Anbahnung und Animation beschränken. Oder in den Worten Wolfhagen Sobireys: „JeKi ist Zusatzimpuls, Schnupperkurs, ist Instrumentenmotivation“ – und somit weit entfernt von den Kernaufgaben der Musikschule: „Vertiefung und Spezialisierung, Talent- und Begabtenförderung sowie die Studienvorbereitung“.1
Nun habe ich schon in zwei Beiträgen für diese Zeitschrift im Jahr 20102 darauf verwiesen, dass in dem Faktum, dass Kinder unter den curricularen, zeitlichen und räumlichen Bedingungen des Regelschulbetriebs gemeinsam verschiedene Instrumente lernen, die motivationelle und didaktische Chance liegt, das Spiel- und Liedrepertoire dieser Instrumente auch in den täglichen Unterricht der Grundschule einfließen zu lassen oder von früh an das instrumentale Lernen mit verschiedenen Formen des gemeinsamen Singens und Musizierens zu verknüpfen (auch mit solchen, die ohne Noten auskommen). Und wenn man zudem bedenkt, wie viel Kinder voneinander lernen können oder welche interessanten Beziehungen zwischen Musikschul- und GrundschullehrerInnen entstehen können: Könnte nicht – so lautete seinerzeit meine Frage – dieses JeKi-Lernen (bzw. überhaupt das Lernen in Kooperationsprojekten von Musikschulen und Schulen) ein „situiertes Lernen“3 sein, das die Bedingungen dieses Lernens nicht beklagt („Einzelunterricht an der Musikschule wäre uns lieber“), sondern offensiv nutzt? Könnten nicht an Grundschulen, an denen flächendeckend instrumental wie vokal gelernt und musiziert wird, so etwas wie „musikalische Praxisgemeinschaften“ entstehen? (Mir ist bewusst, dass die deutsche Übersetzung des englischen Begriffs „community of practice“ problematisch ist, assoziiert man mit „Praxisgemeinschaft“ im Deutschen doch eher einen organisatorischen Verbund von Ärzten.)

1 Wolfhagen Sobirey in: üben & musizieren 6/2010, S. 57; Sobirey replizierte dort auf meine in Fußnote 2 ­erwähnten Beiträge.
2 Peter Röbke: „Der musikalische Ernstfall. Was ist ­guter Instrumentalunterricht vor dem Hintergrund des JeKi-Projekts? – Teil I“, in: üben & musizieren 3/2010, S. 46-49; Peter Röbke: „Musizieren im kunterbunten Dschungelorchester. Was ist guter Instrumentalunterricht vor dem Hintergrund des JeKi-Projekts? – Teil II“, in: üben & musizieren 4/2010, S. 44-45.
3 Die Theorie des „Situierten Lernens“ beleuchtet die soziale Verankerung individuellen Lernens. Jean Lave und Etienne Wenger waren federführend in der Weiterentwicklung dieser Theorie.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 6/2011.