Wohlwender, Ulrike

Was heißt hier „kleine Hand“?

Spannweiten und andere wichtige Handeigenschaften realistisch einschätzen

Rubrik: Praxis
erschienen in: üben & musizieren 2/2009 , Seite 30

Über Maria João Pires ist in einem Programmheft zu lesen: „Die Pianis­tin spielt bevorzugt Kammermusik und machte sich vor allem als Mozart-Interpretin einen Namen. Da ihre Hände verhältnismäßig klein sind, verzichtet sie bewusst auf vor allem hoch romantische Demonst­ra­tionen der Virtuosität…“ Evgeny Kissin sagt über seine Lehrerin Anna Kantor, die über 40 Jahre an der berühmten Gnessin Musikschule Moskau gelehrt hat: „Ihre Hand­spanne war einfach zu klein für eine Pianistin. Sie entschied sich konsequent fürs Unterrichten.“ Sind also „kleine Hände“ ein Hindernis für professionelles Instrumentalspiel? Und was sind „kleine Hände“?

Zunächst einmal zeigen die Beispiele von Maria João Pires und Anna Kantor, dass beide Künstlerinnen sich bewusst für Tätigkeitsfelder entschieden haben, die zu ihren Händen passen – und damit sehr erfolgreich wurden. Leider gelingt dies nicht immer. Viel zu oft kommt es vor, dass Instrumentalisten ihre Hände überfordern, dass sie Spieltechnik, Übemethoden und Literaturauswahl nicht ausreichend an ihre manuellen Voraussetzungen anpassen, dass sie ein Instrument mit zu großer Mensur wählen und anderes mehr – und dass sich langwierige Beschwerden einstellen.3 Das Buch Hand und Instrument des Musikphysiologen Christoph Wagner dokumentiert eindrucksvoll solche Musikerschicksale.4
Die Untersuchungen an über 1000 Musikerinnen und Musikern haben gezeigt, dass bei vielen Instrumentalisten Zusammenhänge zwischen spieltechnischen Problemen bzw. Überlastungserscheinungen einerseits und der Beschaffenheit ihrer Hände andererseits bestehen. Es liegt daher nahe, sich bei der Einschätzung der Hand nicht mehr allein auf Intuition und Erfahrung zu verlassen, sondern sich an den heute vorliegenden wissenschaftlichen Daten zu orientieren. Was heißt denn „verhältnismäßig klein“ oder gar „zu klein für eine Pianistin“? Kaum jemand ahnt, wie groß die Unterschiede sein können.

1 Programmheft zum Benefizkonzert des Mahler ­Chamber Orchestra mit Maria João Pires am 7. Dezember 2006 in Ludwigshafen.
2 „Das Publikum ist mein bester Freund“. Interview mit Evgeny Kissin von Dagmar Zurek, Mannheimer Morgen vom 7.2.2007.
3 Horst Hildebrandt: Musikstudium und Gesundheit, Bern 22004, S. 15 ff.; Claudia Spahn: Gesundheit für ­Musiker, Bochum/Freiburg 2006, S. 11 ff.
4 Christoph Wagner: Hand und Instrument. Musik­physiologische Grundlagen, Praktische Konsequenzen, Wiesbaden 2005, S. 191-253; s. auch www.hand-und-instrument.de.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 2/2009.