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Spiekermann, Reinhild

Was ist „normal“?

Verhaltensauffällige Kinder unterrichten

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 5/2017 , Seite 48

Die Zahl der psychisch auffälligen Kinder und Jugendlichen wächst zunehmend. In ihrem Beitrag geht Reinhild Spiekermann zunächst allgemein auf Vorkommen und Ursa­chen von Verhaltensauffälligkeiten ein. Anschließend beschreibt sie diejenigen Auffälligkeiten in ihrer Symptomatik, die für den Instrumen­talunterricht von Bedeutung sein können. Zuletzt werden didaktische Konsequenzen erörtert und mit praktischen Hinweisen für den Umgang mit herausfordernden Schülerinnen und Schülern verbunden.

„Die Mutter kommt mit dem achtjährigen Alexander und dem zweijährigen Bruder in mein Sprechzimmer. Alexander geht zur Liege, drumherum, klappt die Tür des Instrumenten­schrankes auf, nimmt den Reflexhammer heraus, klopft mehrfach auf die Liege, dann auf das Holz des Schrankes. Die Mutter spricht ihn an, zeigt ihm Spielzeug und Bücher. Alexander nimmt ein Buch in die Hand, legt es hin, geht zur Liege, nimmt den Hammer und klopft an das Metallgestänge der Liege, fragt, wozu das da sei, legt den Hammer hin, läuft zur Waage, steigt drauf, zieht den Messstab für die Größe zu sich herab, klappt ihn zehnmal auf und zu. Er wippt auf der Waage, springt herunter, läuft zur Babywaage, drückt drauf, lässt den Zeiger rotieren, bis die Waage anfängt zu schaukeln. Er greift die Messmulde für Säuglinge, schiebt die Messlatte hin und her, zerknüllt das Papier mit dem Größenschieber, wird von der Mutter ermahnt und zu ihr geholt. Er läuft zum Bücher­regal, zieht mehrere Bücher heraus, lässt sie auf den Boden fallen. Er läuft zur Liege, klopft mit dem Reflexhammer mehrfach auf den Schrank, legt den Hammer hin, ehe man etwas sagen kann, nimmt das Stethoskop, steckt es in die Ohren, läuft zur Mut­ter und beginnt sie abzuhören. Mehrfach versucht die Mutter, ihm Grenzen zu zeigen…“1
Auch wenn das vorliegende Fallbeispiel einen Besuch beim Kinderarzt beschreibt, fällt es nicht schwer, sich Alexander im Instrumentalunterricht einer Musikschule vorzustellen. Auch erfahrene Instrumentalpädagoginnen und -pädagogen kommen an ihre Grenzen, wenn es darum geht, Kinder mit deutlichen Beeinträchtigungen im Verhalten und Erleben zu unterrichten; für Berufsanfänger scheint die Aufgabe unlösbar zu sein. Während die Klagen der Pädagogen über „schwierige“ Schüler zunehmen, verweisen Vertreter verschiedenster Berufsgruppen schon seit einiger Zeit darauf, dass die Zahl der psychisch auffälligen Kinder und Jugendlichen zunehmend wächst. Doch was meinen wir eigentlich, wenn wir Verhaltensauffälligkeiten beklagen? Was ist denn im Gegenzug „normales“ Verhalten? Warum fordern uns Kinder wie Alexander so heraus?

1 Klaus Skrodzki: „Kinder mit ADHS. Kinder mit besonderem Förderbedarf“, in: Dirk Menzel/Werner Wiater (Hg.): Verhaltensauffällige Schüler. Symptome, Ursachen und Handlungsmöglichkeiten, Klinkhardt, Bad Heilbrunn 2009, S. 161-175, hier: S. 161 f.

Zuerst erschienen in: Barbara Busch (Hg.): Grundwissen Instrumentalpädagogik. Ein Wegweiser für Studium und Beruf, Breitkopf & Härtel, Wiesbaden 2016, Kapitel 3.2. Wir danken dem Verlag Breitkopf & Härtel (© 2016, Wiesbaden) für die freundliche Nachdruckgenehmigung.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 5/2017.