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Lessing, Wolfgang

Was uns motiviert…

Ein Brief

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 1/2022 , Seite 06

Wonach suchen wir, wenn wir uns mit dem Thema Motivation beschäftigen? Was bleibt dabei möglicherweise unbeachtet? In einem Brief an eine Instrumentallehrerin nähert sich Wolfgang Lessing dem Thema auf Pfaden, die weit abseits psychologischer Motivationstheorien zu liegen scheinen. Oder vielleicht doch nicht?

Liebe Frau Seeheim,
ich verspüre das ganz starke Bedürfnis, Ihnen zu schreiben, denn ich werde das Gefühl nicht los, dass wir auf der Fortbildung am vergangenen Wochenende nicht recht zusammengekommen sind. Zunächst einmal: Ich wollte Sie ganz bestimmt nicht verletzen. Als ich die Gruppe nach ihren Erwartungen und Wünschen fragte und Sie dann sagten, dass Sie sich von mir Tipps erhofften, wie Sie Ihre SchülerInnen besser motivieren können, habe ich sicher nicht gut reagiert. Sie fühlten sich daraufhin von mir nicht ernst genommen (so kam es mir zumindest vor) und leider bestand dann wegen des dichtgedrängten Programms keine Gelegenheit mehr, das noch irgendwie gerade zu rücken.
Wenn ich Ihnen hier jetzt meine Reaktion zu erklären versuche, werden Sie vielleicht merken, dass sie möglicherweise viel mehr mit mir als mit Ihnen zu tun hat. Ich merke nämlich, dass, je älter ich werde, mir meine „Tipps“ oder „Tricks“ abhanden kommen – vor allem beim Thema Motivation. Und wenn ich mit einem Wunsch wie dem Ihrigen konfrontiert werde (was bei einer Lehrkraft für Instrumentaldidaktik durchaus häufiger vorkommt…), spüre ich immer häufiger eine gewisse Hilflosigkeit, die dann in Reaktionen ihren Ausdruck finden, die andere vielleicht als herablassend oder arrogant empfinden.
Dabei ist es keineswegs so, dass ich zum Thema SchülerInnenmotivation nichts zu sagen hätte. Aber das, was ich vielleicht beisteuern könnte, lässt sich – leider oder glücklicherweise? – nicht zu Tipps oder Tricks bündeln, sondern würde bei der Frage ansetzen, was eigentlich hinter dem Wunsch nach einer solchen Trickkiste steht.
Zunächst einmal scheint Ihr Wunsch – was im Rahmen einer Fortbildung natürlich völlig in Ordnung ist – auf ein Problem hinzuweisen. Und noch mehr als einfach nur in Ordnung war es, dass sie das auch als ein solches artikulierten (ganz und gar nicht in Ordnung war hingegen meine Reaktion). Zugleich lenkte dieser Wunsch das Problem aber von Vornherein in eine ganz bestimmte Richtung, wodurch andere Richtungen fast automatisch ausgeblendet wurden: Wer das Fehlen wirksamer Motivationsmittel für das Zentralproblem seines Unterrichts hält, scheint ja wohl davon auszugehen, dass alle anderen Aspekte – Inhalte, Zielsetzungen und Methoden – als weitgehend problemlos anzusehen seien. Man leuchtet mit dem Scheinwerfer auf eine bestimmte Stelle und lässt das Dunkle unbeobachtet.
Das ist eine ziemlich zentrale Vorentscheidung, die ich so einfach nicht akzeptieren möchte! Und zwar nicht, weil ich Ihnen, liebe Frau Seeheim, eine kritikwürdige Unterrichtskonzeption unterschieben will (das stünde mir gar nicht zu). Aber ist nicht die didaktische Konzeption von Unterricht mit all ihren Facetten eine Frage, die wir für jeden Schüler, jede Schülerin, jede Klein- und Großgruppe stets aufs Neue stellen und beantworten müssen? Verzichten wir darauf und erklären stattdessen das Fehlen von „Motivationstipps“ zur Kernfrage unseres Unterrichts, so schaffen wir möglicherweise genau die Prob­leme, die durch diese Tipps dann behoben werden sollen. Oder anders ausgedrückt (und vielleicht etwas polemisch): Steckt nicht hinter der Frage nach Motivationstipps im Grunde eine ganz andere Frage, die nämlich lautet: Wie kann ich meine SchülerInnen dazu bringen, dass sie von sich aus (und am besten auch noch gerne) genau das tun, was ich von ihnen will? Eine derartige Frage steht quer zu jeder Form didaktischen Denkens; sie erinnert mich eher an behavioristische Verhaltenssteuerung als an zeitgemäßen Inst­rumentalunterricht.
Daher rührt auch meine Abneigung gegen den Ausdruck „jemanden motivieren“, der kaum besser ist als das unselige „jemanden bespaßen“. In beiden Fällen sehe ich eher weiße Laborratten als autonome SchülerInnen vor meinem geistigen Auge. Edward Deci, einer der Gründungsväter der „Self-Determination-Theory“, hatte ganz recht, als er äußerte: „Don’t ask how you can motivate others. Ask how you can create the conditions within which others can motivate themselves.“1
Aber was sind das für geheimnisvolle „conditions“? Ich befürchte fast, dass auch Decis Empfehlung von denjenigen, die nach Rezepten suchen, in dem Sinne verstanden werden kann, dass wir als Lehrkräfte irgendetwas „kreieren“ sollen, innerhalb dessen die SchülerInnen uns dann aus freien Stücken in die vorgezeichnete Richtung folgen.
Ich glaube, dass wir dem, was Deci meint, eher auf die Schliche kommen, wenn wir die Richtung unserer Motivationsfrage noch ein weiteres Mal umkehren. Anstatt also zu fragen, wie wir unsere SchülerInnen motivieren können oder welche Bedingungen wir für ­deren Selbstmotivation zu schaffen haben, würde mich erst einmal interessieren, was uns als Lehrkräfte eigentlich selbst an unserem Unterrichten motiviert. Ich will damit keineswegs die steile These aufstellen, dass aus motivierten LehrerInnen automatisch motivierte SchülerInnen resultieren (schön wär’s…). Vielleicht aber lässt sich das Umgekehrte formulieren: Wo SchülerInnen für den Instrumentalunterricht motiviert sind (und damit meine ich nicht nur ihre allgemeine Motivation für die Musik bzw. für das Instrument, sondern ganz bewusst auch den Unterricht selbst, der diese Motivation auslöst), da sind fast immer auch motivierte LehrerInnen im Spiel. Und wenn wir wissen, worin deren Motivation besteht, dann haben wir vielleicht auch einen indirekten Hinweis auf das, was diese SchülerInnen motiviert.
Dass nicht jeder Motivation von Lehrenden zwangsläufig motivierte SchülerInnen entspringen müssen, zeigt ein Blick auf die beiden folgenden Sätze, die Sie in ähnlicher Form vielleicht schon einmal gehört oder sogar selbst formuliert haben:
(1) Meine Motivation für mein Unterrichten besteht darin, möglichst viele gute SchülerInnen zu haben, die am Instrument erfolgreich sind.
(2) Meine Motivation besteht darin, aus allen SchülerInnen im Rahmen des ihnen Möglichen das Beste herauszuholen.
Beide Aussagen enthalten ohne Zweifel ernst zu nehmende und respektable Beweggründe für unterrichtliches Handeln. Da ihnen aber unübersehbar eine exkludierende Tendenz innewohnt (zumindest sofern sie in dieser Einseitigkeit formuliert und gelebt werden), können sie Probleme aufwerfen. So stellt sich bei Äußerung 1 die Frage, was es eigentlich mit den weniger erfolgreichen SchülerInnen auf sich hat? Müssten sie eine derart motivierte Lehrkraft nicht eigentlich demotivieren (und damit die Frage nach Tipps oder Tricks nach sich ziehen)?
Aber auch die zweite Äußerung ist heikel, denn die Formulierung „das Beste im Rahmen des ihnen Möglichen“ geht von einer naturgegebenen Grenze aus, innerhalb derer die Lehrkraft nun nach einem Optimum sucht. Mit welchem Recht, so frage ich, kann sie für sich in Anspruch nehmen, über die Köpfe der SchülerInnen hinweg eine derartige Grenze zu definieren? Hätte mein Cellolehrer früher über mich gesagt, dass ich mich innerhalb meiner Möglichkeiten hervorragend entwickelt hätte, hätte ich sicher zunächst einen Stich verspürt und mir energisch verbeten, dass er aus dieser Zuweisung von Grenzen nun auch noch Motivation für sein pädagogisches Handeln schöpft. Ob ich in Kenntnis dieser Motivation dann wirklich das mir Bestmögliche (was immer es sei) angestrebt hätte, wage ich stark zu bezweifeln.
In beiden Sätzen handelt es sich um Äußerungen, in denen ich als Lehrer es bin, der die Maßstäbe setzt; ob und inwieweit meine SchülerInnen Maßstäbe mitbringen und worin diese sich vielleicht von den meinigen unterscheiden, bleibt unberücksichtigt. Das gilt übrigens auch für den Trompetenkollegen bei unserer Fortbildung (mir fällt sein Name leider nicht mehr ein), von dem, wie Sie sich vielleicht erinnern, die folgende Äußerung stammte:
(3) „Bei Bläserklassen erwarte ich eigentlich gar nichts, dann bin ich auch nicht frustriert, wenn nichts kommt.“
Ich frage dagegen: Haben SchülerInnen, egal mit welchem Maß an Bereitschaft und Engagement sie in meinen Unterricht kommen, nicht ein Recht darauf, dass ich Erwartungen an sie stelle? Und wäre es für uns als Lehrkräfte nicht im Gegenzug wichtig, etwas über ihre Erwartungen, die sie ja doch ganz gewiss haben (auch wenn es nicht die unsrigen sind), zu erfahren, um unsere wechselseitigen Horizonte dann miteinander ins Spiel zu bringen? Auch in dieser Äußerung wird Motivation (oder besser: die Vermeidung von Motivationsenttäuschungen) über die Köpfe der SchülerInnen hinweg formuliert. Während in den Äußerungen 1 und 2 Maßstäbe gesetzt werden, die auf Seiten der SchülerInnen erfüllt oder nicht erfüllt werden können, so wird hier, nicht minder einseitig, von Vornherein ein Verzicht auf Maßstäbe postuliert. In allen drei Fällen bleibt die Seite der SchülerInnen – stumm.
Wie sähe ein Unterricht aus, in dem diese stumme Seite eine Stimme erhält, ohne dass ich als Lehrkraft auf meine Maßstäbe verzichte? Wäre es denkbar, genau aus dem ­Zusammenspiel gegenseitiger Erwartungen Motivation zu schöpfen? Und gesetzt, es gelänge: Was wäre es genau, was mich daran motiviert?

Lesen Sie weiter in Ausgabe 1/2022.