Sobirey, Wolfhagen

Wasser rein!

Der Abbau von JeKi zu JeKits ist ein Sparkonzept, das als innovativer Impuls kostümiert wird

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 3/2015 , Seite 46

Sollen wir JeKits wirklich als weiterführenden musikpädagogischen Impuls begrüßen? Nein! Wir brauchen kontinuierlichen, professionellen Musikunterricht in allen Schulformen, selbstverständlich mit viel Singen, Spielen und Tanzen. Und wir brauchen effektiven, nachhaltigen Instrumentalunterricht.

Weite Kreise der Fachwelt und der Politik reagierten hochinteressiert, als 2003 in Bochum das Projekt „Jedem Kind ein Instrument“, kurz JeKi genannt, erfunden wurde. Instrumentalunterricht im Kernbereich der allgemein bildenden Schule? Weil wir in den Schulen alle Kinder erreichen, nicht nur die, die von ihren Eltern zur Musikschule gebracht werden? Als Gruppenunterricht, damit mehr Kinder diesen Bildungsimpuls bekommen? Entsteht mit diesem „schulischen Inst­rumentalunterricht“ eine ganz neue Musik- und Instrumentalpädagogik? Soll tatsächlich jedes (!) Kind ein Instrument in die Hand bekommen, nicht nur die üblichen sieben bis acht Prozent eines Jahrgangs? Und Kinder von Hartz-IV-Beziehern, die meist nicht in den Musikschulen gesehen werden, bekommen den Unterricht kostenlos? Das könnte ein starker Impuls für die Kinder, für unsere Orchesterlandschaft, für das Musikland Deutsch­land werden!
In den Musikschulen, die den Unterricht meist übernahmen, kam es zu einer höchst faszinierenden Entwicklung. Lernten bisher höchstens fünf Prozent „Hartz-IV-Kinder“ in den Musikschulen, waren es durch JeKi schnell fast 25 Prozent. Welch Schritt nach vorn, welch sozialverpflichteter Instrumentalunterricht!
Ein Stein kam ins Rollen. Auch andere Bundesländer ließen sich begeistern. Und jetzt legt die Regierung von Nordrhein-Westfalen, dem Mutterland der Idee, den Rückwärtsgang ein.
Worum geht es? Bisher gab es JeKi in NRW meist nur im Ruhrgebiet. Die frühere CDU-Regierung hatte vor, es auf ganz NRW auszuweiten. Die aktuelle SPD-Grüne-Regierung will das nicht bezahlen. Die anderen Regionen Nordrhein-Westfalens waren natürlich längst aktiv, wollten die gute Sache auch haben. Ausweitung ja, sagte die Landesregierung, aber zusätzliches Geld sei nicht vorhanden. Wir kennen das. Hinter diesen Aussagen steht immer eine inhaltliche Entscheidung: Geld geben wir aus, aber anderes ist uns wichtiger.
Was macht die Hausfrau im schlechten Fall, wenn die Suppe nicht reicht? Wasser rein. Ausweitung ohne zusätzliches Geld? Billigeres dazu. Aus JeKi wird JeKits. „t“ steht für Tanzen, „s“ für Singen. Stimme und Tanzbein haben die Kinder schließlich kostenneutral dabei. Singen und Tanzen sind großartig, aber die Diskussion zum neuen JeKits zeigt es bereits: Die Eltern wollen für ihr Kind den Instrumentalunterricht behalten. Denn das war bisher für 90 Prozent aller Kinder unerreichbar. Singen und Tanzen sind eher zu haben.
Verdünnte Suppe. JeKi wird teurer, die Teilnehmerzahl der Gruppen wird erhöht – mehr Teilnehmer verlangsamen in aller Regel den Lernfortschritt –, auch sollen sich die Kommunen stärker als bisher an den Kosten beteiligen. Wer an die Haushaltssituation der nordrhein-westfälischen Kommunen denkt, reagiert skeptisch.
Aber auch damit reicht die Suppe noch nicht. Also werden Hungrige ausgeschlossen. Nicht mehr „jedes“ Kind soll in NRW ein Instrument erlernen, sondern nur noch einige Kinder. Konnte im Ruhrgebiet bereits fast jedes Kind einen Instrumentalunterricht beginnen, sollen dort nun ca. 20 Prozent der Unterrichtsstandorte abgebaut werden, damit diese Mittel auf andere NRW-Regionen verteilt werden können. JeKi wird praktisch eingefroren. Die innovative Situation im Ruhrgebiet, ein Nachhaltigkeit darstellendes Erbe des Kulturhauptstadtjahrs, in das Grundschulen und Musikschulen viel Engagement eingebracht haben, wird zum „Missstand“ (nmz 3/15) erklärt. Schade für die Ruhrgebietskinder. Schade für die meisten NRW-Kinder. Schade für die Musik.
Vor allem aber wird das Projekt halbiert, kostenreduzierend. Statt der bisher vier JeKi-Jahre soll das neue JeKits nur noch zwei Jahre dauern. Und das trifft voll ins soziale Herz des Projekts! Warum? Im ersten JeKi-Jahr wurden bisher Instrumente vorgestellt, im zweiten, dritten und vierten Grundschuljahr gab es Instrumentalunterricht. Ein sinnvoller, nachhaltiger Förderzeitraum. Besonders für Kinder aus kulturfernen Familien gut. Beim Erlernen eines Instruments braucht fast jedes Kind einen förderlichen Hintergrund. Das ist traditionell die Familie, die das Kind dabei unterstützt und über die dazugehörigen Motivationskrisen hinweghilft. Und die die Unterrichtsgebühren bezahlt. Im dritten und vierten Jahr waren es bei den JeKi-Kindern aus bildungsfernen Familien meist die Lehrerinnen und Lehrer der Musikschulen, die die Kinder an die Hand nahmen, damit den Fortgang sicherstellten. Je erfolgreicher die Lehrkräfte diesen nicht immer leichten Unterricht beherrschten, desto mehr Kinder blieben dabei. Immerhin bereits 25 Prozent der Kinder im dritten und vierten Jahr waren aus wirtschaftlich-sozialen Gründen von den Entgelten befreit. Die Mittel dafür wurden vom Land zur Verfügung gestellt.
Das endet jetzt. Die Zahl der Kinder, die nach den zwei JeKits-Jahren weiter zum Instrumentalunterricht gehen, wird sich drastisch verringern! Werden wir bald wieder bei den sieben bis acht Prozent sein? Nach Meinung der Landesregierung könnten ja die Kommunen diesen Unterricht im dritten und vierten Jahr übernehmen, auch die Sozialbefreiungen. Es hebe die Hand, wer da viel erwartet.
Ein sogenanntes „Gemeinsames Musizieren“ im zweiten Jahr (= erstes Jahr des Instrumentalunterrichts!) soll jetzt alle trösten. Aber es gibt kein Konzept. Stellungnahme der JeKi-Musikschulen im Ruhrgebiet dazu: „Irrwitzig.“ Dafür landet das Ensemble Kunterbunt, dieser Motivationsschub im dritten und vierten Jahr, für das die Lehrkräfte mehrere Jahre lang Konzepte erarbeitet haben, im Papierkorb. „Gemeinsames Musizieren“, „ästhetisches Handeln“ mit zwei bis drei Tönen? Das gibt’s im Musikunterricht der Schulen und in der Elementaren Musikpädagogik. Tatsächlich, hier kann es voraussetzungslos und mit einfachen Mitteln zu grundlegenden musikalischen Erfahrungen kommen. Aber ein Ton auf dem Xylofon ist auch einfacher zu spielen als einer der ersten Töne auf der Klarinette und der Trompete. Wenn es so überwiegend um diese grundlegenden musikalischen Erfahrungen geht, muss man dafür überhaupt noch so viel Geld für teure Orchesterinstrumente und für viele zusätzliche Instrumentalpädagogen in die Hand nehmen?!
Intern äußert sich die Stiftung bescheidener, aber auch gefährlicher. Gesucht werden Lieder und Stücke, die „mit und ohne Instrumente“ gestaltet werden können. Klingt sehr nach gutem Schulfach Musik. Will man dem Konkurrenz machen? Werden die neuen „JeKi-Schwerpunkte“, wo die Instrumente im Fokus stehen sollen, auch nur ein Mix aus Singen, Tanzen und etwas Instrumente-Anfassen? „Es ist doch großartig, wenn ein Kind einmal in seinem Leben einen Kontrabass anfassen darf!“ (Ministeriumsvertreter). Rutscht der bisherige Instrumentalunterrichtsansatz also in eine Banalisierung ab? Wenn man den Kindern richtige Instrumente in die Hand gibt, mit nach Hause gibt, dann doch wohl, damit sie die richtig üben und spielen lernen.
Ein „Gemeinsames Musizieren“ findet im modernen Gruppenunterricht von Anfang an statt. Das ist ja einer seiner Vorteile. Einen Gegensatz zwischen Instrumente-Lernen und Musizieren zu konstruieren, ist unnötig.
Fazit: Singen und Tanzen sind sehr gut. Noch fehlen allerdings vor allem die Singfachkräfte. Laienchorsängerinnen vor die Schulklassen? Und dafür sollen Eltern zwölf Euro monatlich zahlen? Wer denkt sich sowas aus? Jede Kirche lässt die Kinder kostenlos im Kinderchor mitsingen.
Und das innovative, hoffnungsträchtige, so­zialverpflichtete JeKi-Projekt wird halbiert, eingefroren, de facto beschädigt. Kultur- und Bildungspolitik im Rückwärtsgang. Wann wird das Projekt ganz eingestellt? Und wie werden die anderen „JeKi-Länder“ reagieren?
Die Instrumentalpädagogen, die JeKi seit Jahren unterrichteten, wurden bei der Ausarbeitung des neuen JeKits gar nicht erst gefragt. Sie hätten nur abgeraten. Auch der kompetente „JeKi-Beirat“, eine Versammlung aller in NRW für die Musik Verantwortlichen, wurde erst angesprochen, als alles entschieden war. Die JeKi-Stiftung, Ministeriumsmitarbeiter, Funktionäre und Theoretiker haben JeKits entwickelt. Die Unruhe ist gesichert.
So geht es, wenn politisch Verantwortliche nicht sehen wollen, welche Taube sie da in der Hand halten. Man lässt die Taube fliegen und greift zum Spatz. Instrumentalspiel muss doch nicht jeder erlernen. Oder ist das vielleicht sogar spießig, bürgerlich? Muss musikalische Bildung langfristig und nachhaltig angeboten werden? Kurzdauernde Projekte aus dem „Kulturrucksack“ mit 4,40 Euro pro Kind und Jahr reichen doch.
Und mit am Schlimmsten: Mit großer Hoffnung auf das Projekt und im Glauben, das Land betrachte es als langfristig, haben sich Grundschulen, Musikschulen und viele private Musiklehrkräfte im Ruhrgebiet für JeKi engagiert. Viele neue Lehrkräfte wurden eingestellt, Musikschulen verdoppelten ihre Schülerzahl, mit Feuereifer wurden passende ­Unterrichtsmaterialien erarbeitet. Jetzt wird rückgebaut. Die politisch Verantwortlichen wünschen im Ruhrgebiet eine Kürzung um ca. 100 Stellen. Das wird vor allem die neuen, jungen Lehrkräfte treffen, die sich engagiert in JeKi eingearbeitet haben. „Die können ja dahin gehen, wo es die neuen JeKits-Projekte gibt!“ Personalpolitik mit der Brechstange.
So kam es denn nach der jüngsten Landtagswahl in NRW zum großen Entsetzen. Eigentlich wusste man es längst: Politik ist sprunghaft und denkt kurzfristig. Und was eine CDU-Regierung eingeführt hat, mag eine SPD-Grüne-Regierung nicht lieben. Selbst wenn es vielleicht Gold für die Kinder ist. Fazit: Die Musikschulen haben bei JeKi allzu vertrauensvoll und allzu kooperativ auf den Wunsch der Politik reagiert. In Zukunft sollte man zurückhaltender sein, wenn die Politik wieder eine neue Idee hat.
Das Interview mit Birgit Walter, der Programm­leiterin der JeKi/JeKits-Stiftung, in Aus­gabe 3/15 der neuen musikzeitung gab inzwischen Klarheit. Das neue JeKits sei die Abkehr vom Impuls, „Instrumentalunterricht flächendeckend in die Breite zu bringen“. Und: „Es geht nicht darum, ein instrumentalpädagogisches Curriculum soweit wie möglich durchzuführen.“ Sehr schade. JeKi wäre doch nur „eine etwas herkömmlichere […] Inst­ru­men­talausbildung“ gewesen. Schämt euch, ihr Instrumentalpädagogen! Instrumente spielen lernen, wie herkömmlich! Das soll jetzt nicht mehr stattfinden. JeKits soll ein „musikpädagogischer Impuls“ werden. „Es geht um den Funken, den wir in den Kindern entfachen wollen, die Lust am gemeinsamen Musizieren und Tanzen in sich zu entdecken.“ Also ein Mix aus Instrumenten, Singen und Tanzen. Schön, aber dieser Ansatz ähnelt sehr dem Musikunterricht der allgemein bildenden Schulen, wird aber sicher nur „Musikunterricht light“, denn Musikunterricht in der Schule ist mehr. Auch wird es eine Rolle spielen, dass dieses Angebot nicht von studierten Schulmusikern durchgeführt wird. JeKits als Sparkonzept des Schulträgers? Die Elementar- und Instrumentalpädagogen, die JeKits machen werden, sind billiger als ausgebildete Schulmusiker auf Schulmusikerstellen.
Wir brauchen mehr Kooperationen von Schule und Musikschule. Das wird die Qualität des Musiklands Deutschland stützen. Auf ­eine Gefährdung des Schulfachs Musik und eine Banalisierung des Inst­ru­mentalspiels können wir verzichten.

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