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Steinhäuser, Katja

Welche Farbe hat Musiktheorie?

Ideen zu einem lebendigen Umgang mit Musikanalyse im Instrumental- und Gesangsunterricht

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 5/2023 , Seite 20

Ausgehend von der Idee der Didaktischen Analyse, ein Stück auf seine pädagogischen Möglichkeiten hin zu analysieren, zeigt dieser Artikel Perspektiven auf, wie Musiktheorie – fernab von abstrakten Fachbegriffen – in den Unterricht integriert werden kann und welche Chancen für eine umfassende musikalische Bildung sich daraus ergeben.

Die Didaktische Analyse eines Musikstücks untersucht und bewertet ein Musikwerk aus pädagogischer Sicht. Sie sollte das Ziel verfolgen, LehrerInnen und SchülerInnen einen strukturierten Zugang zum Stück zu ermöglichen, der sowohl das Verständnis der musikalischen Elemente als auch die Entwicklung der interpretatorischen Fähigkeiten fördert. Hierfür werden verschiedene Aspekte einer Komposition analysiert, um diese besser zu verstehen und sie effektiv im Musikunterricht einzusetzen (siehe Kasten). Einen systematischen Zugang zu einem Stück ermöglicht vor allem eine Analyse musiktheoretischer Parameter wie Form, Harmonik, Rhythmus und Thematik.
Leider ruft die Beschäftigung mit musiktheoretischen Inhalten nur bei wenigen MusikerInnen Begeisterung hervor. Musiktheorie wird als trocken, komplex, langweilig oder sogar als einschüchternd empfunden. Das Klischee der „grauen Theorie“, welche die Schönheit der Musik außer Acht lässt und diese nur anhand abstrakter Begriffe und Symbole zu beschreiben versucht, führt bedauerlicherweise oft dazu, dass Musiktheorie als Teil der musikalischen Bildung vernachlässigt wird. Dieser Artikel möchte dazu beitragen, die stereotype Wahrnehmung der „grauen“ Musiktheorie zu überwinden und sie als einen lebendigen, dynamischen und integralen Bestandteil des Musizierens zu begreifen. In diesem Sinne möchte ich die Bedeutung der Musiktheorie im Instrumentalunterricht untersuchen, praktische Ansätze zur Integra­tion von Theorie in den Unterricht vorstellen und die Vorteile aufzeigen, die ein solides theoretisches Fundament für das Erlernen eines Instruments bietet.

Musikpädagogik und Musiktheorie

Betrachtet man historische Instrumentalschulen, so fällt auf, dass sie im Gegensatz zu heutigen Veröffentlichungen durchweg auch umfassende Ausführungen über musiktheoretische Inhalte enthalten. Sie sind nicht nur Instrumentalschulen, sondern behandeln gleichzeitig auch Aspekte der Kompositionslehre.1 Dass musiktheoretische und instrumentale Ausbildung noch im 19. Jahrhundert untrennbar miteinander verbunden waren, belegen eindrücklich auch Carl Czernys Briefe über den Unterricht auf dem Pianoforte (1839), in denen er sich außer auf technische vor allem auf musiktheoretische Inhalte bezieht. Erklärend führt er in seinem siebten Brief („Die Anfangsgründe des Generalbasses“) aus: „Ein Tonsetzer muss den Generalbass wohl studiert haben, weil er sich sonst bei jeder Composition in unregelmässige und folglich unauflösbare Disharmonien verwickeln würde. Aber auch dem Spieler und ausübenden Künstler darf diese Wissenschaft nicht fremd bleiben, weil es eben so nützlich als angenehm ist, wenn er sich darüber Rechenschaft geben kann, in wie weit jede Composition auch auf innern Werth Anspruch machen kann, und weil der Generalbass bedeutende Hilfsmittel zum Fantasieren, a-vista-spielen und Accompagnieren darbiethet.“2
InterpretInnen waren, wie man hieraus ersehen kann, selbstverständlich auch immer gleichzeitig Musikschaffende. In Konzerten wurden stets nicht nur Werke anderer Komponisten interpretiert, sondern auch Kompositionen und Improvisationen der InstrumentalistInnen selbst waren selbstverständlicher Teil jeder Aufführung.3
Heute ist der Unterricht in Musiktheorie vom Instrumental- bzw. Gesangsunterricht getrennt. Zudem wird in den wenigsten Musikschulen Musiktheorieunterricht als selbstverständlicher Teil der musikalischen Ausbildung angeboten bzw. ein solches Angebot nur von wenigen SchülerInnen angenommen. Im Lehrplan Hörerziehung, Musiklehre, Musiktheorie des Verbands deutscher Musikschulen (VdM) von 2006 heißt es zwar noch: „Die Hör­erziehung, Musiklehre und Musiktheorie ist für die Schüler der Musikschulen, zumindest bis zum Beginn der Teilnahme am Ensemblemusizieren (d. h. bis ca. 10 Jahre) obligatorisch.“4 In der Realität beschränkt sich der Musiktheorieunterricht heute jedoch meist auf die Vorbereitung zu einer Zugangsprüfung an einer Musikhochschule. MusikschülerInnen werden also in der Regel als reine InterpretInnen ausgebildet, die mangels Hintergrundwissens meist nur musikalische Traditionen reproduzieren, ohne diese kritisch hinterfragen zu können.
Gehört zu einer umfassenden musikalischen Ausbildung nicht aber auch die Befähigung, die musikalische Sprache so weit zu beherrschen, dass man sich in ihr frei ausdrücken und selbst schöpferisch tätig sein kann? Laut Lehrplan soll das obligatorische Ergänzungsfach Musiktheorie „zum bewussten Umgang mit der Musik als wesentliche Hilfe für die Aufnahme und die Interpretation von Musik“ befähigen.5 Die analytische Auseinandersetzung mit Musikwerken hat also ein besseres Verständnis für die gespielte oder auch gehörte Musik zum Ziel. Die Kenntnis stilistischer Charakteristika begünstigt zudem die Fähigkeit zur selbstständigen Interpretation von Musikwerken.
Didaktisch orientierte Analysen der im Unterricht behandelten Musikwerke hätten darüber hinaus das Poten­zial, Regelhaftigkeiten in musikalischen Strukturen zu erkennen und nachzuvollziehen. Nicht nur gewährleistet dies ein strukturierteres Üben und ein vereinfachtes Auswendiglernen. Ein Wiedererkennen dieser Strukturen in anderen Stücken ermöglicht auch die bessere Reproduzierbarkeit bereits erlangter Fähigkeiten.

1 vgl. z. B. Bach, Carl Philipp Emanuel: Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen, Berlin 1753/62; Marpurg, Friedrich Wilhelm: Die Kunst das Clavier zu spielen, Berlin 1750/61; Löhlein, Georg Simon: Clavier-Schule, Leipzig 1765/81; Türk, Daniel Gottlob: Klavierschule, Leipzig 1789.
2 Czerny, Carl: Briefe über den Unterricht auf dem Pianoforte vom Anfange bis zur Ausbildung als Anhang zu jeder Clavierschule verfasst von Carl Czerny, Wien 1839, S. 60.
3 Die Tradition, in Konzerten zu „präludieren“, reicht bis ins 20. Jahrhundert hinein, erreichte ihren Höhepunkt allerdings 1770 bis 1840 mit Klaviervirtuosen wie Mozart, Clementi, Hummel, Czerny, Chopin und Liszt.
4 Beck, Jochen/Hempel, Christoph/Vetter, Hans-Joachim: Lehrplan Hörerziehung, Musiklehre, Musiktheorie, hg. vom Verband deutscher Musikschulen e. V., Kassel 2006, S.10.
5 ebd., S. 10.

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