Ehrenforth, Karl Heinrich
Welchen Spielraum hat die Kunst?
Gedanken zur Rolle von Musik und musikalischer Bildung in Schule und Gesellschaft vor dem Hintergrund der Ideen Leo Kestenbergs
Im Freiburger Rombach Verlag sind die “Gesammelten Schriften” Leo Kestenbergs erschienen: sechs Bände mit Aufsätzen, Dokumenten und Briefen. Eine editorische Großtat – doch was kann uns Kestenberg heute noch sagen?
Wer war Leo Kestenberg wirklich?
War er der klavierspielende Ministerialbeamte und Traumsozialist der Weimarer Republik, der den „Musikstudienrat“ erfand und daran glaubte, dass alle Menschen klassische Musik via allgemein bildender Schule schätzen lernen könnten? Oder war er ein großer und weit vernetzter europäischer Künstler und Kulturpolitiker, der zur zentral lenkenden Gestalt der beneidenswert lebendigen Berliner Nachkriegskultur geworden ist, dabei seine Identität als Musikpädagoge nie verleugnete, aber dann als Jude das Emigrantenschicksal mit vielen anderen deutschen Wissenschaftlern und Künstlern teilen musste?
Die erste Perspektive war lange verbreitet bis hinein in die Zunft der Musiker. Das zweite, offenere Porträt ist der hier anzuzeigenden publizistischen Großtat von Herausgeberschaft und Verlag mit einer Dokumentation von nahezu 2500 Seiten zu verdanken, die Kestenbergs weit größeres geistiges Format als Gestalter einer neuen demokratisch orientierten Musikkultur am Beispiel Preußens sichtbar werden lässt. Vor allem die Briefe zeigen eine Persönlichkeit von Rang, deren geistiger Weitblick zusammen mit einem bei Künstlern eher raren (fach-)politischen Durchsetzungsvermögen und einem begeisterten und begeisternden Glauben an die „Menschlichkeit durch Musik“ Eindruck hinterlässt. Nicht umsonst ist dieser Mann von so bedeutenden Künstlern wie Oskar Kokoschka und Ernst Barlach porträtiert worden. Faszinierend ist dabei eine zartsaitige Empathie ohne taktische Hintergründe. Kestenberg ringt darum, den ihn begleitenden Menschen seine Sympathie zu schenken. Arroganz und Aggression sind ihm fremd.
Diese Publikation ist eine herausragende editorische Leistung, die der jungen akademischen Disziplin der Musikpädagogik gut zu Gesicht steht. Sowohl hinsichtlich der mühevollen Recherchen in Berlin, England und Israel als auch im Hinblick auf die informativen Einführungen, editorischen Anmerkungen und das reiche Arsenal der Fußnoten ist nur Gutes zu sagen.
Das hier wissenschaftlich ausgebreitete Wissen könnte als Fundus für eine Kulturgeschichte der Künste (mit Bevorzugung der Musik) in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gute Dienste leisten. Dass manche Hinweise zu Personen öfter in den Einzelbän-den wiederholt werden, ist offensichtlich der Erwartung zu verdanken, dass Einzelbände mehr gekauft werden als die Gesamtausgabe.
Lesen Sie weiter in Ausgabe 1/2014.