Richter, Ulrike

Wenn in der Musik die Hüllen fallen

Betrachtungen zur Erotik des Musizierens

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 3/2016 , Seite 06

Musik berührt. Musik ist sinnlich. “Appassionato”, “con fuoco” und “amoroso” sind Vortragsbezeich­nungen, auf die wir als Musikerin­nen und Musiker des Öfteren stoßen und die bereits auf eine innige Beziehung von Leidenschaft, Liebe und Musik verweisen. Doch wie gestaltet sich die Beziehung zwischen Erotik und Musik?

Musik selbst kann zärtlich oder leidenschaft­lich sein. Diese untergründige Erotik kann zuweilen subtil sein oder gänzlich unbewusst, aber sie trägt dazu bei, dass wir Musik als etwas zutiefst Intimes und Bewegendes empfinden, ihr sogar Attribute zuschreiben, die wir ansonsten nur für einen geliebten Menschen oder Partner verwenden würden.
Dass es ein schwieriges Unterfangen ist, sich mit bewussten und unbewussten Ebenen erotischen Erlebens und Empfindens des Musikgenusses oder ihrer Darbietung zu befassen, zeigt sich schon in dem Versuch, beide Begriffe zu bestimmen. Was genau Erotik ist, welche Bereiche des sinnlichen Erlebens hierin eingeschlossen werden, ist schwierig zu definieren. Dass selbst eine eindeutige, allgemein gültige Definition des Musikbegriffs schwierig ist, haben Richard Parncutt und Annekatrin Kessler dargelegt.1
Das sinnlich-erotische Erleben ist – wie auch das musikalische Erleben – zutiefst indivi­duell. So führt Hans-Jürgen Döpp aus: „Das Erotische ist kein zu objektivierender Wert, es ist etwas höchst Subjektives. Wie die Erotik, so lebt auch die Kunst von der Spannung zwischen Trieb und Verstand, zwischen Gefühl und Intellekt. Beide, Kunst und Erotik, sind verwurzelt im Sinnlichen, doch bieten sie dem, der sie erfährt, zugleich auch einen ‚höheren Genuss‘. Sie speisen sich zwar aus sexuellen Triebquellen, sind aber nicht gerichtet auf ­Erfüllung in sexuell-sinnlichen Triebzielen: das Körperliche amalgamiert mit dem Geis­tigen.“2
Dass es zwischen Musik und Erotik von jeher Zusammenhänge und Wechselwirkungen gab, wird schnell klar, wenn man an die erotische Wirkung von Tänzen denkt, gleichgültig, ob es sich um rituelle Stammestänze, moderne „Raves“, Partnertänze wie dem Tango oder sogar Ballettaufführungen handelt. Auch einen Zusammenhang zwischen Prostitution und Musikausübung hat es bereits in der Antike und in diversen Kulturen gegeben.3 Der mittelalterliche Minnesang war die hohe Kunst der Anbetung einer unerreichbaren, idealisierten Frau, die unter anderem dazu diente, „sexuelle Energien durch Anpassung an kollektive Wert- und Moralvorstellungen zu disziplinieren“.4 Und nicht zuletzt wurde „Sex, Drugs and Rock’n’Roll“ zur Parole ganzer Generationen von Rockmusikern. Offensichtlich dient Musik also nicht nur als Medium der Verführung, sie hilft auch, sexuelle und triebhafte Energien zu lenken und zu sublimieren.

Sublimierung und Unbewusstes

Die wohl bekannteste und älteste Theorie über die Zusammenhänge zwischen Sexualleben und Kunst ist die Freud’sche Sublimierungstheorie, nach der aggressive und libidinöse Triebe, die für das Ich im Laufe der psychischen Entwicklung als bedrohlich empfunden werden, verfeinert und umgelenkt und in der unlustvollen Spannung nach motorischer (oder eben auch akustischer) Abfuhr verlangen.5
Nach diesen frühen Ausführungen zur Musikausübung stammt Musik hauptsächlich vom Tanz ab, der mit seinem libidinösen Charakter ein „künstlerisch geformter Liebesakt“6 sei. „Die Musik löst sich langsam vom Tanze ab und wird zu einer sublimierten narzisstischen Triebbefriedigung, die den ursprüng­lichen Zusammenhang kaum mehr erkennen lässt. […] Die Kunstwerke der Instrumentalmusik schweben vom irdischen Trieb losgelöst in verklärten Höhen, auch die erzeugten Lustempfindungen sind verfeinert, sublimiert, aber auch weniger intensiv. […] Im Rhythmus wird die wilde irrationale Durchschlagskraft des Triebes gezähmt und die explosive Spannung zur pulsierenden Lust umgewandelt.“7
Musik wird zur Ersatzbefriedigung. Einige dieser frühen Ansätze reduzieren Musik letztlich auf ein „Geschehen autoerotischer Selbst­befriedigung“.8 Der Ton wird angesehen als „Ejektion der gestauten primär-narzisstischen und der autoerotischen Libido eines sexuell er­regten, jedoch zur eigentlichen Objektsexualität noch nicht vorgedrungenen Organismus mittels eines ziemlich weit entmaterialisierten Ersatzstoffes“.9 Indem Musik jedoch die psychische Zensur aufhebt und umgeht, „wird den verdrängten Wunschphantasien eine Phan­tasiebefriedigung erlaubt“.10

1 Richard Parncutt/Annekatrin Kessler: „Musik als virtuelle Person“, in: Bernd Oberhoff/Sebastian Leikert (Hg.): Die Psyche im Spiegel der Musik. Musikpsychoanalytische Beiträge, Gießen 2007, S. 203.
2 Hans-Jürgen Döpp: Musik und Eros, Norderstedt 2010, S. 130.
3 ebd.
4 Jeffrey Ashcroft, zit. nach Döpp, S. 50.
5 Dies ist selbstverständlich nur ein sehr grober Abriss, eine genauere Darlegung findet sich in: Bernd Oberhoff (Hg.): Psychoanalyse und Musik, Gießen 2002.
6 Desiderius Mosonyi: „Die irrationalen Grundlagen der Musik“, in: Oberhoff, Psychoanalyse und Musik, S. 73 ff.
7 ebd.
8 Oberhoff, Psychoanalyse und Musik, S. 12.
9 Sigmund Pfeifer: „Musikpsychologische Probleme“, in: ebd., S. 57 ff.
10 Oberhoff, S. 12.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 3/2016.