Eikmeier, Corinna
Wenn Marsmenschen Vibrato lernen…
Die Feldenkrais-Methode zur Vermittlung von Spieltechniken (nicht nur) im Cellounterricht
Babys entdecken ohne Anleitung auf magische Weise ihre Bewegungsmöglichkeiten. Mosché Feldenkrais bezeichnete diese Art zu lernen als organisches Lernen und grenzte es vom gesteuerten, schulischen Lernen ab. Auch im Instrumentalunterricht wird der Lernprozess von Lehrenden gelenkt. Am Beispiel der Einführung des Vibratos im Cellounterricht zeigt Corinna Eikmeier, wie der Raum für organisches Lernen geöffnet werden kann.
Stellen Sie sich vor, Sie müssten einem Marsmenschen erklären, wie Sie von einem Stuhl aufstehen: Was bewegt sich auf welche Weise zuerst? Wie verlagern Sie Ihr Gewicht? Wo stehen Ihre Füße für diese Handlung am besten? In welche Richtung haben Sie Ihren Kopf ausgerichtet? Und welche Bewegungsbahn beschreibt die Bewegung Ihres Beckens? Selbst, wenn Sie alle diese Fragen aus Ihrer eigenen Erinnerung und Wahrnehmung genau beantworten könnten, würde es dem Marsmenschen, der noch nie auf einem Stuhl gesessen hat, vermutlich nicht gelingen, anhand Ihrer Beschreibung aufzustehen.
Ähnliche Situationen entstehen, wenn Lehrende den Versuch unternehmen, Spieltechniken gründlich zu erläutern. Im Folgenden zeige ich am Beispiel der Einführung des Vibratos beim Cellospielen, wie die Idee des organischen Lernens in das schulische Lehren und Lernen eingebunden werden kann, um instrumentenspezifische Bewegungsabläufe ganzheitlich (das heißt unter Einbeziehung der natürlichen Koordination des ganzen Körpers) zu vermitteln.
Organisches Lernen
Babys lernen ihre Bewegungsmöglichkeiten kennen ohne Anleitung von Erwachsenen – einzig durch beharrliches Ausprobieren. Mosché Feldenkrais bezeichnete diese Form des Lernens als organisches Lernen, welches sich vom schulischen Lernen unterscheidet: Organisches Lernen, so Feldenkrais, „ist jeweils individuell und geht ohne einen Lehrer vor sich, der etwa in einer bestimmten Zeit zu bestimmten Ergebnissen gelangen möchte. Es dauert so lange, wie der Lernende beim Lernen bleibt.“1
Im Instrumental- und Gesangsunterricht ist die Vermittlung von komplexen Bewegungsabläufen oder Atemtechniken einer von vielen Inhalten. Oft kann man die Einführung einer Spieltechnik mit der Erklärung einer Alltagsbewegung für einen Marsmenschen vergleichen; vielfach gesellen sich Versuche der Lehrenden hinzu, durch Korrekturen ihre Schüler und Schülerinnen schneller zu einem befriedigenden Ergebnis zu führen. Dadurch wird das Tempo des Lernprozesses oft so massiv beschleunigt, dass der Lernprozess im Sinne des organischen Lernens nicht stattfinden kann.
Im Unterschied zu Babys befinden sich Instrumental- und GesangsschülerInnen in einem formalisierten Lernkontext. Je älter Menschen werden, umso ungewohnter ist es für sie, von innen heraus natürlich zu lernen. Deshalb ist es wichtig, den Lernprozess auch in formalisierten Kontexten so anzuleiten, dass Raum für organisches Lernen entstehen kann. Nach Feldenkrais ist dabei zu bedenken, dass die Reihenfolge der Lernschritte ihren eigenen Gesetzen folgt: „Wenn Lernschritte ausgelassen werden, weil das Tempo von außen vorgegeben wird oder das Lernen auf ein Ziel hinstrebt, kann es im Ergebnis zu einer erheblich verminderten Qualität kommen.“2
Nach der Feldenkrais-Methode geschieht die Arbeit an komplexen Bewegungsabläufen durch klare Anweisungen, in denen allerdings keine Beschreibungen der gewünschten Bewegungsabläufe enthalten sind, sowie durch viele Fragen, die die Lernenden zu differenziertem Wahrnehmen anleiten.3
Vorbemerkungen zum Vibrato
Das Vibrato auf dem Streichinstrument ist eine Tonhöhenveränderung, die durch eine Schüttelbewegung des ganzen Arms erzeugt wird. Im Gegensatz zur Geige und Bratsche gibt es auf dem Cello keine Unterscheidung von Arm-, Handgelenk- und Fingervibrato. Durch das Schütteln bewegt sich der Spielfinger von der Außen- zur Innenkante.
Beim Cellospiel ist das Vibrato vom 2. und 3. Finger zunächst leichter, da der Finger direkt unter dem Schwerpunkt des Arms liegt. Beim 1. und 4. Finger muss sich der Arm mit den anderen Fingern so ausrichten, dass der Spielfinger ebenfalls unter den Schwerpunkt des Arms kommt. Die zuvor aufgebaute Griffstellung muss also temporär verlassen werden. Eine häufig auftretende Schwierigkeit ist die gleichzeitige Belastung des Spielfingers und das Zulassen der Bewegung um die Druckstelle auf der Saite. Eine weitere Schwierigkeit liegt in der Koordination des schnell bewegten linken Arms mit dem gleichmäßig geführten Bogen durch den rechten Arm.
Die Schüttelbewegung des linken Arms überträgt sich im Optimalfall direkt auf den Spielfinger und setzt sich leicht durch die Schulter und den Rücken im Rumpf fort. Hierzu ist es wichtig, dass die großen proximalen Muskeln von Rumpf und Schulter bewegungsbereit sind.4 Unter Berücksichtigung dieser spieltechnischen Herausforderungen sind im Folgenden Übungen zusammengestellt, die den eingangs skizzierten Überlegungen zum organischen Lernen folgen.
1 Mosché Feldenkrais: Die Entdeckung des Selbstverständlichen, Frankfurt am Main 1985, S. 59.
2 Mosché Feldenkrais: Das starke Selbst. Anleitungen zur Spontaneität, Frankfurt am Main 1989, S. 236.
3 zum organischen Lernen vgl. u. a. Corinna Eikmeier: Bewegungsqualität und Musizierpraxis. Zum Verhältnis von Feldenkrais-Methode und musikalischer Improvisation, Fernwald 2016, S. 200 ff.; Mosché Feldenkrais: „Selbstverwirklichung durch organisches Lernen“, in: Elizabeth Beringer (Hg.): Verkörperte Weisheit (= Moshé Feldenkrais, gesammelte Schriften von 1904-1984), Bern 2013, S. 111-128.
4 vgl. Linda Langeheine: Saitenspiele. Ein Wegweiser für den Einzel- und Gruppenunterricht auf dem Violoncello, Frankfurt am Main 2000, S. 115 ff.; Gerhard Mantel: Cello üben. Eine Methodik des Übens nicht nur für Streicher. Von der Analyse zur Intuition, Mainz 2013, S. 94 ff.
Lesen Sie weiter in Ausgabe 6/2020.