© Mathias Schillmöller_Katharina Ziemke

Schillmöller, Mathias

Wenn Musik Farbe bekennt

Wegbeschreibungen vom visuellen Impuls zum Klang

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 4/2024 , Seite 12

Im Instrumentalunterricht gibt es vielseitige Möglichkeiten, die Lernen­den durch visuelle Impulse anzuregen. Welche kreativen Spielräume sich daraus ergeben und wie kunstübergreifendes Arbeiten sich konkret methodisch ­umsetzen lässt, darum geht es in diesem Beitrag.

Ob in Videos auf TikTok, Reels auf Instagram, Multimediashows oder Performances in der zeitgenössischen Kunst: In Zeiten medialer Globalisierung bestimmen Bilder und Klänge mehr als je zuvor den Alltag. Unsere Schülerinnen und Schüler leben in Zwischenräumen, in denen Sinnesebenen, Kunstformen und Medien aufeinanderprallen. Diese Räume zwischen den Künsten hat es immer schon gegeben. Sie bergen einerseits Gefahren der Reizüberflutung und zugleich kreative Kräfte, die sich aktuell etwa im Boom der medialen Kreationen bei TikTok entfesseln.1 Viele Künstlerpersönlichkeiten wie z. B. Angelika Kauffmann (1741-1807) oder Paul Klee (1879-1940) haben aus solchen Kräften geschöpft.2
Auch das Erlernen eines Instruments lässt sich durch visuelle Impulse bereichern. Unterrichtsräume werden dabei zu multimodalen Zwischenräumen. Lernenden kann so das (gewohnte) Hören und Sehen insofern vergehen, als dass sie eingeladen werden, sich – anders als bei TikTok – ganz in Ruhe in visuelle Welten zu vertiefen und diese in Klangwelten zu verwandeln. Aus ihren persönlichen Klangvorstellungen heraus entscheiden sie sich für einen individuellen Weg der Umsetzung. Die Lehrperson berät sie dabei und begleitet sie zu authentischen performativen Settings, in denen gestisch, körperlich, imp­rovisierend und komponierend, alleine oder in Gruppen, mit Instrumenten und verschiedensten Klangerzeugern neue Kreationen entstehen.

Chopin-Erfahrung ­zwischen Bild und Klang

Aber wie kann es gelingen, Auge und Ohr so zu verbinden, dass die Fantasie angeregt und das innere Hören verbessert wird? Welche Haltung gilt es einzunehmen, damit lustvolle, sinnliche Erfahrungen entstehen, die das Ins­trumentalspiel verbessern?
Blaue Stunde im Pariser Park Monceau. Ich stehe vor dem Chopin-Denkmal. Es ist Abend. Das weiße Marmorgebilde wirkt zunächst etwas kühl. Ich konzentriere mich und schließe die Augen, um meine Einbildungskraft zu wecken. Es ist die Frau, die dem Pianisten zu Füßen liegt und ihre Hand vor die Augen hält, die unmerklich eine Veränderung in Gang bringt. Das Bild verwandelt sich, was natürlich nur in meiner Fantasie passiert. Die Konturen werden schärfer, die Figuren werden plastischer.
Plötzlich habe ich das Gefühl, dass das Monument zu leben beginnt. Das eingefrorene Dasein der Figuren, deren Stillstand, scheint zu Zeit zu werden, die vergeht. Ich stelle mir zarte Bewegungen vor. Beginnt der Arm des Pianisten, mit seiner mächtigen Hand zu schweben? Es gibt insgesamt sechs Hände und zwei Flügel im Bild. Deren Beziehung lässt sich als still pulsierendes Wechselspiel wahrnehmen. Dann lösen sich auf einmal Grenzen auf. Das Monument beginnt in mir zu klingen.
Das Denkmal wurde 1906 von Jacques Froment-Meurice (1864-1947) geschaffen. Während der Pariser Belle-Époque wurden die Grenzen der Künste besonders gerne überschritten. Das Monument ist offensichtlich auch als Klang gemeint. Der Vorgang des Hörens wird unterstrichen, indem die Dame zu Füßen des Pianisten mit ihrer Hand die Augen verdeckt. Vielleicht ist das Geschehen die innere Vision der Dame? In meiner Erinnerung werden Reminiszenzen aus verschiedenen Chopin-Stücken wach. Seine Gefährtin George Sand nahm damals deren blauen Klang war. Sie ergießen sich zunächst eher vage als unbestimmte Klangmasse und konkretisieren sich dann anhand verschiedener Bewegungselemente im Bild. Der Engel oben passt für mich zu Chopins perlenden Arpeggien, zu seinen sehnsuchtsvollen Kantilenen und seiner häufig himmlisch leichten Klanglichkeit. Mir kommen die Etüde op. 10 Nr. 4 („In mir klingt ein Lied“) und die Fächeretüde op. 25 Nr. 1 in den Sinn.
Das Monument hat mir eine sinnliche und beglückende Chopin-Erfahrung ermöglicht. Es regt meine Fantasie an und verändert meine gewohnte Wahrnehmung. Mein inneres Hören wird wachgerufen – en sourdine.

Visuelle Impulse für musikalische Aktionen

Wie lange echo fern zusammenrauschen
In tiefer finsterer geselligkeit
Weit wie die nacht und wie die helligkeit
Parfüme färben töne rede tauschen.
Charles Baudelaire3

Auf visuelle Impulse musikalisch zu reagieren, ist ein kreativer Vorgang ästhetischer Transformation von einer Kunstform in eine andere (siehe auch den Beitrag von Ursula Brandstätter in dieser Ausgabe). Im Instrumentalunterricht können durch die Einbeziehung von Bildern unterschiedliche Ziele verfolgt werden. Die Lernenden
– entfalten ihre Erfindungs- und Ausdruckskraft durch den Transfer von einer Kunstform in eine andere,
– entwickeln einen freieren und ungehemmteren Zugang zur Musik,
– erlernen und erproben verschiedene Techniken des Musikerfindens,
– werden hellhöriger, da sie mehr mit ihren Sinnen und Gefühlen beteiligt sind, und entwickeln ihre Hörvorstellungen,
– sind motivierter, weil vielen von ihnen das tägliche Erleben von Bildern und Klängen im Wechselspiel mehr als vertraut ist,
– lernen durch synästhetische Prozesse mit einer Aktivierung der rechten und linken Gehirnhälfte nachhaltiger,
– erfahren Musik als sinnvoll aus einem konkreten Anlass hervorgehende Ausdrucksform,
– finden Zugänge zu musikalischen Verfahrensweisen der zeitgenössischen Musik,
– erweitern ihre Kenntnisse und Spieltechniken auf dem Instrument.
Die klanglichen Anteile in Werken der Bildenden Kunst variieren und sind immer abhängig von der subjektiven Sichtweise. Relevant für den Instrumentalunterricht sind Bilder
– mit explizit „musikalischen“ Sujets (Musizierende, Komponistenporträts, Instrumentenabbildungen),
– mit abstrakteren musikalischen Anspielungen (die Musik selbst, ein musikalisches Merkmal oder eine Gattung sind das Thema),
– ohne musikalisches Thema, die aber musikalische Elemente enthalten (Bilder mit Klang- oder Notensymbolen),
– mit Themen, die programmatischen Musikstücken gleichen (Jahres- und Tageszeiten, Wetter, Elemente, Figuren),
– ohne musikalisches Thema mit suggestivem Klangcharakter,
– die Texte oder Gedichte illustrieren,
– ohne jegliche Klangintention, die aber musikalisch gedeutet oder einem Musikwerk zugeordnet werden können.
Die Abbildungen (Bilder oder Filme) können digital (Padlet, Notebook), aus Büchern oder handgezeichnet von der Lehrkraft oder den Lernenden beigesteuert werden. Insbesondere für Gruppen sind ein Beamer und eine Projektionsfläche sinnvoll.

1 vgl. Höfer, Fritz: „TikTok-App Musicking als aktuelle jugendkulturelle Musikpraxis in ihrer Relevanz für die Musikpädagogik“, in: Enser, Gabriele/Gritsch, Bernhard/ Höfer, Fritz (Hg.): Musikalische Sozialisation und Lernwelten, Münster 2019, S. 205-227.
2 vgl. Schillmöller, Mathias: Musik-Kunst. Kultur verstehen im Wechselspiel der Künste, Esslingen 2016.
3 aus Baudelaire, Charles: Correspondances (Einklänge), übersetzt von Stefan George, www.projekt-gutenberg.org/george/blumen/chap004.html (Stand: 20.3.2024).

Lesen Sie weiter in Ausgabe 4/2024.