Sommerfeld, Jörg
Wer unterrichtet demnächst Musik?
Der Kommentar
Über 100 Forschende haben an 33 Standorten der Lehrkräfteausbildung mit unterschiedlichen Methoden nach Ursachen einer Entscheidung gegen ein Lehramtsstudium gesucht; der entsprechende Bericht der Forschungsinitiative MULEM-EX liegt nun vor.
Ein paar Kostproben: Seit 2019 gingen die Neuimmatrikulationen deutschlandweit um 16 % zurück. Die Eignungsprüfungen werden in ihrer starken Ausrichtung auf die „klassisch-europäische Kunstmusik“ als unpassend zum späteren Berufsalltag und zur eigenen Biografie wahrgenommen. Studierende für das Lehramt Grundschule möchten das Fach Musik später lieber fachfremd unterrichten, statt es selbst zu belegen. Die Eignungsprüfungen machen Musik zu einem sehr exklusiven Fach, auch dieser Gemeinplatz wird von MULEM-EX bestätigt. Schon der Vorbereitungsaufwand für Zweitfach, Theorie und Gehörbildung ist zeitaufwändig und teuer.
Neben den Aufnahmebedingungen wird aber auch das Studium selbst als problematisch wahrgenommen, insbesondere im Hinblick auf die fehlende Passung zum späteren Berufsalltag in der Schule. Letzterer wird als belastend und unflexibel empfunden. Diese Ergebnisse sind für Praktiker im Feld natürlich keine Überraschung, aber durch die Bündelung in MULEM-EX lassen sich nun Politik machen und Veränderungsnotwendigkeiten in den Hochschulen begründen.
Bezeichnend ist die Begrifflichkeit der Forschenden. So werden Menschen, die sich für ein Studium interessieren könnten, als „Musikaffine“ bezeichnet. Die spannende Frage, wer denn das genau ist, bleibt offen. Ich konnte auch sonst nirgendwo eine Studie zum sozioökonomischen Status von StudienanfängerInnen im Fach finden. Dabei scheint mir das die Schlüsselfrage zu sein. Welche Gruppe hat früher Schulmusik studiert und tut das heute nicht mehr?
Im Grunde versucht MULEM-EX Marktforschung mit musikpädagogischen Mitteln. Der unscharfe Begriff der Musikaffinität bedeutet, dass die Musikhochschulen, Universitäten, Akademien und Konservatorien ihre Zielgruppe nicht mehr zu kennen scheinen. Tatsächlich haben derzeit nur von Kindheit an in einer bestimmten Weise geförderte Schülerinnen und Schüler überhaupt eine Chance, ein Lehramtsstudium aufzunehmen. Vieles deutet darauf hin, dass Studierende der Schulmusik typischerweise aus bestimmten Milieus kamen und kommen und es hier nun Verschiebungen gibt.
Auf die gesellschaftlichen Veränderungen der vergangenen Jahre wurde in Musikschulen bereits reagiert. Bei ihnen gehören inzwischen regelmäßig auch Menschen mit Zuwanderungsgeschichte oder Kinder aus Familien ohne bürgerlich-musikalischen Bildungshintergrund zu den Adressaten. Wie diese eine Chance auf ein Lehramtsstudium bekommen und auch dazu motiviert werden können, ist zu klären. Denn ohne neue Zielgruppen kann der dauerhafte Rückgang der Studienbewerbungen nicht abgewendet werden. Und ohne Veränderungen im Schulfach Musik wird es auch nicht gehen.
Nehmen wir die Musikpraxis: Die Studie legt aus Sicht der Befragten eine deutliche Stärkung des Feldes Ensembleleitung nahe. Das sagt sich leicht, jedoch sind die Anforderungen in schulischen Ensembles sehr heterogen und gleichzeitig anspruchsvoll. Eine Lehrkraft wird nicht mit derselben Kompetenz einen Oberstufenchor, eine Streicherklasse und eine Rockband anleiten können. Parallel tauchen in vielen Kooperationsprogrammen etwa mit Musikschulen nun Spezialistinnen und Spezialisten in der Schule auf, deren Fähigkeiten in ihrem jeweiligen Arbeitsfeld den schulischen Allroundern oft überlegen sind.
Die wichtigste Erkenntnis aus MULEM-EX scheint mir, dass man sich der aktuellen Gefahr bewusst wird. Musik könnte sehr bald in der Schule marginalisiert sein. Wahrscheinlich ist das angesichts der Quereinsteiger, Seiteneinsteiger und des fachfremden Unterrichts an vielen Schulstandorten bereits der Fall. Nicht zu handeln ist keine Option: Bei diesen Zahlen bleibt nicht mehr viel Zeit, schließlich steht dem Rückgang im Studium ein steigender Lehrkräftebedarf gegenüber.
Und, liebe Musikschulkolleginnen und -kollegen: Ein Vorschlag von MULEM-EX ist es, Quereinsteiger zu qualifizieren. Als gäbe es nicht auch bei uns längst einen Fachkräftemangel. Aber wir kennen die potenziellen Studienbewerber persönlich, können Arbeitsplätze ohne ministeriale Vorgaben selbst gestalten und denken immer schon in Marketingkategorien. Nutzen wir diese Vorteile!
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