© Cordula Heuberg

Dahlhaus, Bernd

Wert-Schätze

Mentale Einspielübungen für Musiklehrkräfte und ihre SchülerInnen

Rubrik: musikschule )) DIREKT
erschienen in: üben & musizieren 3/2017 , musikschule )) DIREKT, Seite 10

Dienstagmorgen, kurz nach neun Uhr im Lehrerzimmer: Zwölf Musiklehrerinnen und -lehrer sitzen überwiegend träge in der Runde und schauen tranceartig auf die vor ihnen liegende Tagesordnung. Der Fachleiter redet sich allmählich mit dem ersten Thema in seine Rolle als Gesprächsleiter hinein. Wie so oft beginnt die Bläserfachkonferenz schwerfällig und zäh. Die Stimmung ist nicht schlecht, aber auch nicht energetisch und lebendig. Es dauert einige Zeit, bis die Gruppe in einen produktiven Arbeitszustand findet. Und auch dann sind nicht alle äußerlich wie innerlich beteiligt.

Eine wirkungsvolle und angenehme Weise, diese Kolleginnen und Kollegen wie auch allgemein die TeilnehmerInnen von Facharbeitsgruppen und kollegialen Austauschtreffen zu mobilisieren und eine Gruppe von Beginn an in eine produktive Arbeitsatmosphäre zu führen, besteht darin, die TeilnehmerInnen in Kontakt mit ihren individuellen positiven Erfahrungs- und Erlebensressourcen zu bringen.
Im Folgenden stelle ich drei mentale Einspielübungen vor. In allen drei Anregungen geht es darum, sich auf spielerische Art innerlich auf persönliche positive Erfahrungen auszurichten, diese inneren Schätze gedanklich zu aktivieren und dadurch in einen angenehm(er)en, kompetenzaktivierenden psycho-physischen Zustand zu gelangen. Die bewusste Fokussierung der inneren Aufmerksamkeit ändert den Energie- und dementsprechend den Leistungszustand des Einzelnen wie auch der Gruppe. Und vor allem: Die eigenen guten Erfahrungen für sich selbst wertzuschätzen, wie auch die der anderen im Miteinander, macht einfach bessere Laune.1

1. Schatzscheinwerfer

Es liegen vorbereitete kleine Papierschnipsel mit Satzanfängen bereit. Jeder Teilnehmer zieht verdeckt einen Schnipsel und vervollständigt für sich still den Satz. Anschließend liest reihum jeder seinen vollständigen Satz vor.
Ausgewählte Satzanfänge2 lauten:
) Ich spiele gerne mein Instrument, weil…
) Ich unterrichte gerne mein Instrument, weil…
) Beim Unterrichten kann ich besonders gut…
) Ich mag an meinen SchülerInnen besonders…
) Meine SchülerInnen schätzen wohl am meisten an mir…
) Ich fühle mich beim Unterrichten wohl, wenn…
) Ich mache meine Arbeit gut, wenn…
) Meine KollegInnen schätzen vermutlich an mir…
) Ich tausche mich gerne mit KollegInnen (über angenehme Berufserfahrungen) aus, weil…

2. Erfahrungsrosinchen

Der Gesprächsleiter regt die Kolleginnen und Kollegen an, an ihren Unterricht und den Arbeitsalltag der jüngsten Zeit zu denken. Hilfreiche einführende Formulierungen sind beispielsweise: „Könnt ihr die Unterrichtsstunden der letzten Tage und Wochen vor dem inneren Auge vorbeiziehen lassen… in den verschiedenen Räumen… mit den vielen Schülerinnen und Schülern… an den einzelnen Wochentagen…“ Der innere Suchscheinwerfer soll dann bei den aufsteigenden Erinnerungsbildern besonders auf schöne Momente und Erlebnisse gerichtet sein: „Und vielleicht kommt euch eine kleine, schöne, nette oder berührende Begebenheit in den Sinn.“ Dabei geht es nicht um große, beeindruckende „(Unterrichts-)Erfolge“, sondern mehr um kleine Erlebensmomente, die für denjenigen mit einem positiven, angenehmen Gefühl verbunden sind. In der Regel finden alle TeilnehmerInnen solch eine kleine Erinnerung. Reihum erzählen sie auf freiwilliger Basis in jeweils zwei bis drei Minuten von ihren Erfahrungsrosinchen.

3. Wertschätzungswichteln

Die TeilnehmerInnen schreiben jeweils den eigenen Namen auf einen kleinen Zettel. Die Zettel werden eingesammelt und gemischt. Verdeckt zieht anschließend jeder Teilnehmer aus dem Stapel einen neuen Zettel. Reihum geben die TeilnehmerInnen der Person, deren Name auf ihrem Zettel steht, eine wohlwollend-wertschätzende Rückmeldung. Mögliche Satzanfänge sind: „Liebe X, ich denke, dass du eine gute Lehrerin bist, weil du…“; oder: „Ich halte für deine besonderen fachlichen/beruflichen/musikalischen/pädagogischen Ta­lente und Fähigkeiten…“ Oder auch ganz allgemein: „Ich schätze an dir besonders…“ Bei den Rückmeldungen ist nicht entscheidend, ob diese zutreffend oder nicht zutreffend sind. Vielmehr geht es darum,
) die Wahrnehmung in dieser besonderen Weise zu fokussieren und dabei auch der eigenen Intuition zu trauen;
) dies vor allem bei Personen, mit denen man wenig oder gar nicht bekannt ist oder die einem unsympathisch erscheinen;
) konkrete Formulierungen für die Rückmeldung zu finden;
) diese meist ungewohnte und leider viel zu seltene Art von Rückmeldung wirklich auszusprechen und
) als Empfänger solch eine öffentliche ­positive Rückmeldung „auszuhalten“ und sich zu entscheiden, sie anzunehmen oder nicht.
Es hat sich bewährt, dass die Empfänger die Rückmeldungen nicht kommentieren, sondern schweigend anhören. Die Wirkung dieses Erfahrungsangebots ist für die Beteiligten größer, wenn Ergänzungen, Kommentare und Relativierungen weggelassen werden.

Im kollegialen Miteinander

Diese und ähnliche ressourcenorientierte und zugleich ressourcenstärkende Ideen können bei Lehrer- und Fachkonferenzen sowie Arbeitsgruppen in Musikschulen, bei Treffen von Berufsverbänden sowie in privaten kollegialen Austauschgruppen angewendet werden.
Die dafür benötigte Zeit ist gut investiert. Wird diese Art des gemeinsamen Einstiegs bei fortlaufenden Zusammenkünften ritua­lisiert, wirkt sich dies auch grundsätzlich positiv auf die Haltung im Miteinander aus. Das Gruppenklima verbessert sich, das Engagement der TeilnehmerInnen steigt und rasch nimmt die persönliche Bedeutung und Wertzuschreibung für die Treffen zu.3
Selten äußern TeilnehmerInnen Vorbehalte. Sie seien nicht gekommen, um „Spielchen“ zu machen. Die Zeit sei eh so knapp und es gebe doch wirklich Wichtigeres zu besprechen. Außerdem gehörten solche persönlichen Dinge gar nicht in diese Runde. Solcherart Einwände lösen erfahrungsgemäß in einer Gruppe unterschiedliche Reaktionen aus. Sinnvoll ist es, das Gespräch auf die hinter den Einwänden liegenden Bedürfnisse dieser TeilnehmerInnen zu lenken. Eine wertschätzende Haltung in der Gruppe bestünde darin, gemein­sam zu überlegen, auf welche Weise fortgefahren werden könnte, sodass diese Bedürfnisse geachtet sind. Aus der Vielzahl der denkbaren Vorgehensweisen finden Gruppen in der Regel eine für sie passende Lösung.
Handelt es sich um eine größere Gruppe mit vielen TeilnehmerInnen, können die Einspielübungen auch im Zweieraustausch oder in Untergruppen erfolgen. Und natürlich sollten die Übungen, genau wie musikpädagogische Unterrichtsmethoden, nicht rezepthaft durchgeführt werden, sondern können und sollen je nach Situation und Gruppenkontext kreativ angewendet und weiterentwickelt werden.

Im privaten Rahmen

Die beschriebenen Ideen lassen sich auch privat nutzen. So könnten Sie, liebe Leserin und lieber Leser, sich eine Satzschnipselsammlung anlegen, vor dem täglichen Unterrichten einen Schnipsel ziehen und mit Ihrem inneren Suchscheinwerfer einen (verborgenen) Erfahrungsschatz beleuchten. Oder Sie notieren von Zeit zu Zeit Ihre Erfahrungsrosinchen in einem persönlichen Berufsjournal. Und Sie könnten auch mit Selbstvertrauen auf Ihre Kolleginnen und Kollegen zugehen und diese um eine ehrliche Rückmeldung zu Ihren besonderen Fähigkeiten und Eigenschaften bitten – und vielleicht sogar auch zu Ihren Schwächen und Macken.

Im Unterricht

Ich benutze die Einspielübungen in abgewandelter Form auch in meinem Klavier- und Keyboardunterricht. Damit rege ich meine Schülerinnen und Schüler auf spielerische Weise zur Selbstreflexion ihres Mu­sizierens an und fördere und fordere sie in ihrer Selbstverantwortung für ihr Lernen. Weitere positive Auswirkungen sind:
) Die Lernenden werden sich ihrer positiven Musizier- und Unterrichtserfahrungen (mehr) bewusst. Ihre Wertschätzung des Unterrichts (und des Lehrers?) steigt.
) Im Unterricht wird die weit verbreitete Defizitorientierung, primär auf Fehler zu achten und diese zu verbessern, explizit durch eine bewusste Ressourcenorientierung ergänzt. Das Selbstvertrauen der Lernenden und ihre Motivation nehmen zu, das Gruppenklima verändert sich, der Umgang miteinander wird respektvoller.
) Schülerinnen und Schüler lernen, das Prinzip der Ressourcenorientierung bzw. der Aufmerksamkeitsfokussierung für ihre (Musizier-)Ziele zu nutzen.
) Als Lehrer erhalte ich wichtige Informationen zur Verbesserung meines Unterrichtens.
Selbstverständlich sind die Übungen mit pädagogischem Fingerspitzengefühl anzuwenden. Sie sollten an das Alter der SchülerInnen und situativ an den Unterrichtskontext angepasst werden. Gelegentlich ist es sinnvoll, für bestimmte Schüler oder Schülergruppen aus der Satzschnipselsammlung eine Vorauswahl zu treffen.

Sicherheitshinweis

Diejenigen Sachverhalte im musikpädagogischen Berufsalltag sowie im Musikunterricht, die von Lehrenden und Lernenden als Problem, Missstand oder Konflikt erlebt werden, dürfen selbstverständlich nicht ignoriert und sollen auch nicht mit den mentalen Einspielübungen „schöngedacht“ werden. Selbstverständlich müssen Probleme angesprochen und gute Lösungen gefunden werden. Allerdings sind gute Problemlösungen nur dann möglich, wenn sich alle Beteiligten bei der gemeinsamen Lösungsfindung in einem guten inneren psycho-physischen Zustand befinden und die Diskussion auch bei konträren oder sogar unvereinbar erscheinenden Auffassungen in der Sache grundsätzlich und dauerhaft von gegenseitiger Wertschätzung der Beteiligten getragen ist. Nur wenn Menschen das Gefühl haben, dass sie wirklich gesehen werden, dass sie in ihrer Art geachtet und wertgeschätzt werden, fühlen sie sich innerlich sicher, können über sich hinauswachsen und neue Schätze gestalten. In diesem Sinne wollen die Einspielübungen eine Übeanregung für Musiklehrende und -lernende sein und für eine Wertschätzungskultur in der praktischen Musikpädagogik werben.

1 Das Prinzip der Aufmerksamkeitsfokussierung ist eine praktische Anwendung der Ressourcenorientierung. Es wird auch im Leistungssport, in Bera­tung und Coaching wie auch in ähnlicher Form beim mentalen Üben verwendet. Zu den neurobiologischen Hintergründen siehe beispielsweise Gerald Hüther: Bedienungsanleitung für ein menschliches Gehirn, Göttingen 32002 und Maja Storch u. a.: Embodiment. Die Wechselwirkung von Körper und Psyche verstehen und nutzen, Bern 2006.
2 Alle Satzanfänge sind als Kopiervorlage kostenfrei abrufbar unter www.musikbaeume.de/veroeffentlichungen.
3 In diesem Sinne könnten die beschriebenen Einspielübungen auch als ein Element dazu bei­tragen, dass das von vielen Musikschul- und Ver­bandsführungskräften beklagte geringe bis nicht vorhandene Engagement vieler (freiberuflicher) Musiklehrer bei der Mitarbeit im Verband, in einer Interessenvertretung oder in einer Musikschularbeitsgruppe (wieder) zunimmt.