Mun, Iru
Wertschätzendes Miteinander
Das musikalische Bildungskonzept an Waldorfschulen
Seit Gründung der ersten Waldorfschule in Stuttgart im Jahr 1919 spielt ein gesamtheitliches Bildungskonzept, welches kognitive, künstlerisch-handwerkliche Unterrichtsfächer und Bewegungsfächer gleichermaßen und paritätisch berücksichtigt, eine tragende Rolle in der Waldorfpädagogik. Was dies für die musikbezogene Arbeit an den heute 254 Waldorfschulen1 in Deutschland bedeutet, wird im Folgenden skizziert.
Ein grundlegender Ansatz der Waldorfpädagogik ist das Bestreben, sich an den inneren Entwicklungsmotiven der Kinder und Jugendlichen zu orientieren, den Lehrplan danach auszurichten und „den Bogen der Schulzeit schließlich bis zu einem fortgeschrittenen Grad an persönlicher Verantwortlichkeit, Mündigkeit und sozialer Reife zu spannen“.2 Diese Prämissen spiegeln sich im musikalischen Bildungskonzept der Waldorfschule wider,3 das formal auf fünf Säulen basiert.
Musikunterricht
Der Fachunterricht Musik wird durchgängig in allen Klassenstufen erteilt. An den meisten Waldorfschulen findet er zweimal pro Woche statt. Neben dem aktiven Musizieren (gemeinsames Singen und instrumentales Ensemblespiel) werden Musikgeschichte, Musiktheorie, Harmonielehre, Instrumentenkunde, Formenlehre und Werkbetrachtung unter Berücksichtigung der Entwicklungssituation der jeweiligen Klassenstufen unterrichtet.4 Eine Besonderheit ist die sogenannte Musikepoche in den elften Klassen. In diesen meist drei- bis vierwöchigen Unterrichtseinheiten5 wird der Versuch unternommen, einen musikgeschichtlichen Überblick von den frühen Hochkulturen bis in die Gegenwart zu geben. Die musikgeschichtlichen Aspekte werden dabei eingebettet in den jeweiligen gesellschafts- und kulturhistorischen Kontext. Die Anregungen, die Stephan Ronner in seinem Praxisbuch Musikunterricht entwickelt hat,6 bieten diesbezüglich Lehrenden eine grundlegende Orientierungsmöglichkeit.
Chor, Orchester und Musik-AGs
An den meisten Waldorfschulen existiert eine vielfältige Chor- und Orchesterkultur, wobei das gemeinschaftsbildende Element und die gemeinsame Übung des wertschätzenden Miteinanders in musikalischen Gruppenprozessen eine genauso wichtige Rolle einnimmt wie die Ausdifferenzierung der eigenen spieltechnisch-musikalischen Fertigkeiten: „Es geht beim gemeinsamen Singen und Musizieren in erster Linie um eine lebendige Atmosphäre, die geprägt ist von gegenseitiger Wertschätzung und Achtsamkeit, von Toleranz dem anderen gegenüber und von der erlebten Erfahrung, dass man sich in einem geschützten Raum befindet, der frei von Verurteilungen und Demütigungen – so subtil oder gut gemeint sie auch sein mögen – gehalten und gestaltet wird, damit der musizierende Mensch sich öffnen kann.“7
1 Weltweit gibt es rund 1200 Waldorfschulen; vgl. www.waldorfschule.de/schulen/schulsuche/schulverzeichnisse (Stand: 27.02.2024).
2 Ronner, Stephan: Praxisbuch Musikunterricht. Ein Wegweiser zur Musikpädagogik an Waldorfschulen, Stuttgart 2012, S. 9.
3 Richter, Tobias (Hg): Pädagogischer Auftrag und Unterrichtsziele – vom Lehrplan der Waldorfschule, Stuttgart 2016, S. 83.
4 Richter, S. 504.
5 Ronner, S. 229 f.
6 ebd.
7 Mun, Iru: „Musikalische Bildung als Selbsterziehungsweg und sozialer Gestaltungsvorgang“, in: Wiehl, Angelika/Steinwachs, Frank (Hg): Studienbuch Waldorf-Jugendpädagogik, Bad Heilbrunn 2022, S. 152.
Lesen Sie weiter in Ausgabe 4/2024.