Jachmann, Jan

Wie bringen wir Praxis und Theorie noch enger miteinander in Dialog?

Kunstuniversität Graz: Zur aktuellen Reform des Bachelorstudiengangs für Instrumental- und Gesangspädagogik

Rubrik: Bericht
erschienen in: üben & musizieren 6/2023 , Online-Beitrag 07

In Graz findet aktuell eine grundlegende Reform des Bachelorstudiengangs Instrumental- und Gesangspädagogik statt. Ziel ist eine enge Verzahnung der theoretischen Lehre mit vielfältigen, alltagsnahen Praxiserfahrungen über die gesamte Studienzeit hinweg: Studierende erhalten vom ersten Studienjahr an die Möglichkeit, an Musikschulen Lehrpraxiserfahrungen zu machen und unterschiedliche Unterrichtssettings in verschiedenen Bildungs- und Kulturinstitutionen kennenzulernen.

Im Austausch mit erfahrenen PraktikerInnen erhalten Studierende vor Ort Hintergrundwissen über die Herausforderungen des von ihnen gewählten Berufsfelds. Die theoretischen Lehrveranstaltungen in Didaktik, Pädagogik und Musikwissenschaft greifen diese aktuellen Praxiserfahrungen der Studierenden als Impulse auf. Die Studierenden diskutieren ausgehend davon zentrale wissenschaftliche Theorien ihres Fachs und untersuchen deren Erklärungskraft für die eigene Praxis.
Hinter der Reform stehen zwei zentrale hochschuldidaktische Ideen. Zum einen ist das Ziel, über das gesamte Studium hinweg eine hermeneutische Zirkelbewegung zwischen theoretischer Reflexion und praktischer Erfahrung zu ermöglichen. Die von Beginn an startenden Praxiserfahrungen dienen durch ihre Herausforderungen quasi als „Irritationsmomente“: Sie sollen die Studierenden zu Fragen über ihre Praxis anregen, welche durch die gemeinsame Diskussion wissenschaftlicher Theorien zu ersten Antworten führen. Im Gegenzug können die Studierenden neue theoretische Ideen zurück in die Praxis tragen, um dort weiterführende Fragen zu entwickeln und sich damit dann erneut Theorien zuzuwenden. Perspektivisch ist das Ziel, über diese praxisbasierte Positionierung gegenüber wissenschaftlichen Aussagen auch einen ersten Schritt hin zu einem kritischen Umgang mit Theorie zu vollziehen, der in weiterführenden Studiengängen hin zu wissenschaftlicher Kritikkompetenz ausgebaut werden kann.
Zum zweiten geht es hochschuldidaktisch darum, produktiv mit den bereits vorhandenen, persönlichen Alltagstheorien[1] der Studierenden zum Unterricht ihres Fachs umzugehen: Bevor Studierende zu einem Studium der Instrumental- und Gesangspädagogik zugelassen werden, haben sie im Regelfall über viele Jahre selbst Instrumental- oder Gesangsunterricht erhalten. In dieser Zeit haben sie durch praktische Erfahrungen sowie durch Austausch mit PädagogInnen, MitschülerInnen und anderen Personen in ihrem sozialen Umfeld persönliche Theorien zur Pädagogik ihres Fachs entwickelt: Unter anderem zu erfolgversprechenden Übetechniken, zur Motivation oder zum Verlauf der Interaktion zwischen SchülerIn und LehrerIn. Gemäß den Erfahrungen des Autors ist dies für die akademische Ausbildung einerseits von Vorteil, da die Studierenden ihre Annahmen in die Lehrveranstaltungen hineintragen und dort – auch kontrovers – diskutieren können. Andererseits erweisen sich die Vorerfahrungen der Studierenden in mindestens dreierlei Hinsicht als didaktische Herausforderung: Es handelt sich um sehr persönliche Überzeugungen, die auf der jeweiligen Sozialisation fußen. Es finden sich darin häufig starke normative Anteile, die in Diskussionen nur schwer zu hinterfragen und von wertfreien Auffassungen zu lösen sind. Und es vermischen sich darin persönliche Überzeugungen mit (Teil-)Aussagen wissenschaftlicher Diskurse. Der frühe Weg in eine möglichst vielfältige Unterrichtspraxis, wie er an der Kunstuniversität Graz im Zuge der Reform angestrebt wird, soll es daher Studierenden ermöglichen, ihre praktischen Vorerfahrungen von Beginn des Studiums an zu erweitern. Sie erhalten die Möglichkeit, ihre persönlichen Theorien didaktisch gerahmt auszudifferenzieren, zu hinterfragen und in der Praxis weiterzuentwickeln.
Um Theorie und Praxis im Instrumental- und Gesangspädagogikstudium in einen möglichst engen Dialog zu bringen, startet die Kunstuniversität Graz aktuell verschiedene Pilotprojekte, in denen bestehende Kooperationen mit Bildungsinstitutionen der Region ausgebaut und neue Kooperationen geschaffen werden. Neben dem Johann-Joseph-Fux-Konservatorium Graz als langjährigem Partner werden darin zahlreiche Musikschulen, allgemeinbildende Schulen, soziale Einrichtungen, Museen und Theater der Steiermark einbezogen. Ziel ist, den reformierten Studiengang mit Beginn des Studienjahres 2025/26 zu starten.

[1] vgl. einführend zum Konzept subjektiver Theorien, die Menschen im Rahmen ihrer Alltagserfahrungen bilden: Christof, Eveline: „Bearbeitung schulpraktischer Erfahrungen durch eine Rekonstruktion subjektiver Theorien: Peer-Interviews als mündliche Form der Praxisreflexion“, in: Christof, Eveline/Köhler, Julia/Rosenberger, Katharina/Wyss Corinne (Hg.): Mündliche, schriftliche und theatrale Wege der Praxisreflexion. Beiträge zur Professionalisierung pädagogischen Handelns, Bern 2018, S. 95-100.