Mantel, Gerhard

„… wie ein ­geschnitztes Bild“?

Der bewegte Körper während des Spiels

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 2/2011 , Seite 22

Körpertechniken zur Prophylaxe von gesundheitlichen Störungen sind wichtig. Aber wie gelingt es Musikerinnen und Musikern, auch während des Spielens ihren Körper optimal zu führen und dadurch gesund zu erhalten? Gerhard Mantel erläutert, weshalb der Körper beim Spielen ständig in Bewegung gehalten werden muss.

In der instrumentalpädagogischen Diskussion zum The­ma „Körperbewegung“ ist das Interesse in letzter Zeit stark auf die Vorbereitung optimaler Spielbewegungen und auf Prophylaxe, Therapie und allgemeine Disposi­tion gerichtet. Körpertechniken wie Alexander-Technik, Feldenkrais, Yoga, Dispokinese, Kinesiologie oder Eutonie dominieren den Diskurs. Sie haben zum Ziel, einen körperlichen Idealzustand beim Spiel zu erreichen. Körpertechniken haben zweifellos ihre Bedeutung und sind geeignet, den unterschiedlichen, individuellen Bedürfnissen vieler Musiker „maßgeschneiderte“ Hilfestellungen in Bezug auf ihre körperliche Disposition zu geben. Im Folgenden soll der Fokus jedoch auf diejenigen Bewegungen gerichtet werden, die einem Spieler während des Spiels, sowohl während des Übens als auch ganz besonders während eines Auftritts, zur Verfügung stehen. Was bedeuten sie als Mittel der Technik und des musikalischen Ausdrucks? Wie können sie einen Interpreten und seine Interpretation definieren?
Wir müssen Spielbewegungen unter zwei gänzlich verschiedenen Gesichtspunkten beobachten und beurteilen. Zunächst dienen sie dazu, physikalisch auf unserem Instrument mechanische Modifikationen zu erzeugen: Die Saite wird verkürzt oder verlängert, um unterschiedliche Frequenzen von Schwingungen zu erzeugen, der Bogen sorgt durch variierten Druck und Geschwindigkeit für Reibung unterschiedlicher Stärke, der Luftstrom des Bläsers variiert analog zu den vorgestellten Klang­ereignissen, der Anschlag einer Pianistin variiert seine Stärke und die Kurve seiner Beschleunigung. Auch wenn der Begriff „Physik“ im Instrumentalunterricht kaum vorkommt – ein großer Teil der Instrumentalpädagogik ist diesem Aspekt gewidmet: Welche Ziele, welche Eigenschaften muss ich ansteuern, damit das Instrument so klingt, wie ich es mir vorstelle?
Der zweite Aspekt, unter dem wir Spielbewegungen beurteilen müssen, ist der psycho-physische, nach innen gewandte. Er betrifft das sensomotorische oder „propriozeptive“ System. Unser Körper ist ein gigantisches Informationssystem mit unzähligen rückgekoppelten Regelkreisen, die sich alle gegenseitig beeinflussen. Jede Bewegung, jede Änderung des Drucks in einem unserer über hundert Gelenke sendet über Rezeptoren im Gelenk selbst wie in Sehnen und Muskelspindeln Informationen ans Gehirn über Winkel, Widerstand, Masse, Ausschlag und Beschleunigung einer Gelenkbewegung. Dabei ist jede Bewegung mit einer ihr entsprechenden Empfindung verknüpft: Wie fühlt sich diese Bewegung an?
Eine weitere Informationsquelle für unsere Spielbewegungen sind die Tastempfindungen über die Haut. Wir „streicheln“ gewissermaßen unser Instrument, um ein Höchstmaß an Empfindungsdichte beim Spiel zu erzeugen. Der Tastsinn lässt sich ebenfalls ganz bewusst ansteuern: Wie fühlt sich diese Berührung an?
Auch unser Ohr hat nicht nur einen kontrollierenden, sondern auch einen steuernden Einfluss auf unsere Bewegungen. Der Begriff „Klangvorstellung“ wird oft recht pauschal verwendet. Klangvorstellungen können sehr präzise oder auch sehr ungenau sein. Dies gilt schon für die Intonation eines einzigen Intervalls: Ein Ton, der in seiner Tonhöhe und in seinem Verlauf so deutlich vorgestellt wird, als ob er schon erklänge, hat z. B. auf einem Streichinstrument eine fast magnetische Wirkung auf die für die Intonation adäquate Körperbewegung. Da­rüber hinaus hat unser Ohr auch noch eine entscheidende Funktion als Organ des Körpergleichgewichts, mit dem wieder das ganze Muskelsystem unseres Körpers verknüpft ist.
Wenn wir jetzt noch psychische Faktoren wie Stimmung, Mut, Angst, Lampenfieber hinzunehmen, die in Ausdruck und Bewegung hi­neinspielen, stehen wir vor einem unerschöpflichen Informationssystem, in dem Körperbewegungen, Emotionen und Gedanken dicht aufeinander bezogen sind und eine äußerst komplex aufgebaute Einheit darstellen. Alles hängt mit allem zusammen. Als Symbol hierfür kann das Mobile stehen: Wo immer es angestoßen wird, ändert es seine gesamte Konstellation in allen Teilen. Die Arbeitsweise dieses Informations- und Aktivationssystems spielt sich im Allgemeinen fast gänzlich außerhalb unseres kontrollierenden Bewusstseins ab. Und trotzdem haben wir einen Zugang zu diesem System: Wir können uns schließlich immer willkürlich bewegen.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 2/2011.