Figdor, Helmuth

Wie entsteht Selbstdisziplin?

Anmerkungen eines ­Psychoanalytikers

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 2/2009 , Seite 16

Bei Nicht-Erreichen eines angestrebten Ziels bescheinigen wir uns oder unseren SchülerInnen gerne „mangelnde Selbstdisziplin“. Doch Vorsicht: Hinter der scheinbar schonungslosen Analyse verbirgt sich womöglich nur die Unfähigkeit oder mangelnde Bereitschaft, sich mit den tiefer liegenden Gründen des Scheiterns auseinanderzusetzen!

Im Brockhaus kann man folgende Definition für Selbstdisziplin finden: „die auf Selbstbeherrschung beruhende Haltung als freie sittliche Leistung des Individuums“. Welcher Formulierungen sich Versuche einer Defini­tion auch immer bedienen, das Moment der Selbstbeherrschung ist ihnen gemeinsam, ebenso die Hierarchie von Verhaltensmotiven: Um ein höherwertiges Ziel zu erreichen, soll eine niederwertige Regung „beherrscht“, also unterdrückt werden. In der alltäglichen Verwendung des Begriffs Selbstdisziplin ist diese Hierarchie nicht objektiv, sondern subjektiv begründet: Der Abfahrtsläufer wird voraussichtlich die Sorge um die eigene Gesundheit hintanstellen müssen, der Schriftsteller vielleicht seine Leidenschaft für Musik, die ihn vom geplanten Schreibpensum abhält usw. In jedem Fall jedoch haben wir es erstens mit einem inneren Konflikt zwischen zwei oder mehreren Regungen zu tun, die alle zum Handeln drängen, und zweitens mit einem Konflikt, in welchem das höherwertige Ziel offenbar mit einem (zumindest fallweise) geringeren affektiven Nachdruck ausgestattet ist als die „störenden“ Regungen. Oder anders ausgedrückt: Der Vorsatz oder die Forderung nach mehr Selbstdisziplin entsteht immer dann, wenn ein im weites­ten Sinn rational höher gewertetes Ziel durch eine affektiv höher besetzte Regung gefährdet erscheint.
Verfolgt also ein Musiker etwa das Ziel, ein bestimmtes Stück, möglicherweise auch noch bis zu einem bestimmten Zeitpunkt zu erarbeiten, und weiß er, welches Ausmaß an Anstrengung, Zeit und Üben dafür erforderlich wäre, schafft es jedoch nicht, seinen Vorsatz zu realisieren, wird er sich voraussichtlich die Diagnose „zu wenig Selbstdisziplin“ stellen. Peilt ein Instrumental­lehrer mit seiner Schülerin ein bestimmtes Ziel an, wird auch er wissen, was zu tun ist, um es zu erreichen. Als Lehrer ist jedoch seine Macht beschränkt: Arbeitet die Schülerin nicht in dem Ausmaß, wie vom Lehrer gefordert, und wird das Ziel dann nicht erreicht, wird voraussichtlich der Lehrer den Grund in „zu wenig Selbstdiszip­lin“ (der Schülerin) sehen.

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