Hengstschläger, Markus / Peter Röbke
Wir brauchen die Verschiedenheit
Wie können wir verhindern, dass sich Begabungen in der „Durchschnittsfalle“ verfangen?
Markus Hengstschläger leitet an der Medizinischen Universität Wien das Institut für Medizinische Genetik. Im Jahr 2012 erschien sein Bestseller “Die Durchschnittsfalle”. Im Gespräch mit Peter Röbke plädiert er für den Mut, die individuellen Stärken von Kindern zu fördern, anstatt nur in ihre Schwächen zu investieren. Andernfalls landen alle beim Durchschnitt – oder anders gesagt: im Mittelmaß.
Peter Röbke: Lieber Herr Hengstschläger, mir scheint die folgende Passage aus Ihrem Buch Die Durchschnittsfalle in das Zentrum Ihrer Überlegungen zu führen: „Nehmen wir einmal an, ein Kind, das gar nichts gelernt hat, weil es nur am Fußballplatz oder vor dem Computer war, kommt mit vier sehr schlechten und einer ausgezeichneten Note nach Hause. Was sagen mittlerweile die Eltern, die Lehrer, die Politik zu so einem Kind? Sie sagen: Da, wo du die ausgezeichnete Note hast, da lernst du jetzt gar nichts mehr, da bist du ja schon so gut wie durch. Aber in den Fächern, in denen du die schlechten Noten hast, da wirst du ab sofort Nachhilfe bekommen, lernen und üben Tag und Nacht, damit du möglichst schnell in diesen Fächern wieder Durchschnitt bist.“
Markus Hengstschläger: Ich antworte mit einem Beispiel aus Ihrem Metier: Plácido Domingo hat aus Sicht eines Genetikers mit Sicherheit auch biologisch gesehen gute individuelle Leistungsvoraussetzungen für seinen Beruf: etwa Lage und Länge der Stimmbänder, Beschaffenheit von Kehlkopf und Brustmuskulatur – all das ist Biologie und das hat bis zu einem gewissen Grad Relevanz in seinem Beruf. Aber er muss zwei Dinge tun: Das eine ist, auch seine vielleicht schwächeren Domänen zu bearbeiten. Denn auch ein Plácido Domingo kann nicht seine spezifischen Leistungsvoraussetzungen umsetzen, wenn er nicht lesen und schreiben könnte, Fremdsprachen spräche, nicht die Partituren verstehen könnte usw. Also: Natürlich muss auch an dem gearbeitet werden, was sich nicht so offensichtlich als Anlage herauskristallisiert. Aber dann braucht er unbedingt genügend Zeit und genügend Unterstützung bei der Umsetzung seiner ganz individuellen, also hier: sängerischen Leistungsvoraussetzungen!
Meine Sorge ist, dass zu oft dort viel investiert wird, wo die Schwächen sind, und viel zu wenig dort, wo die Stärken sind: Und so landen wir genau in der Mitte, beim Durchschnitt. Und wenn wir alle Zeit darauf verwenden, die Schwächen auszumerzen, dann ist die Zeit für die Entfaltung der individuellen Leistungsvoraussetzungen (oder meinetwegen auch: Talente, Begabungen) verloren. Zudem nimmt diese Orientierung Kindern den Mut zu lernen: Wenn ich sie den ganzen Tag darauf hinweise, was sie nicht können, und sie mit dem quäle, was sie nicht sonderlich gut können, dann bin ich ganz schnell an dem Punkt, wo die intrinsische Motivation draußen ist.
Aber auch ein paar Worte zu dem, was musikalisches Talent sein könnte: Das kann man, so meine ich, eigentlich als solches nicht messen. Ein Kind spielt gut Klavier und die Mutter sagt, das hat ein Talent. Und jetzt müssen wir uns fragen: Warum weiß die Mutter, dass ihr Kind ein Talent hat? Die Mutter würde darauf antworten: Weil es gut Klavier spielt! Und dann müssten wir die Mutter noch einmal fragen: Warum glauben Sie, dass das Kind gut Klavier spielt? Und dann würde die Mutter antworten: Weil es ein Talent hat. Und das ist zurzeit irgendwie der Stand der Diskussion rund um die Begabtenförderung…
Wenn wir alle Zeit darauf verwenden, die Schwächen auszumerzen, dann ist die Zeit für die Entfaltung der individuellen Leistungsvoraussetzungen verloren.
Wir können eigentlich nur den Erfolg messen, andererseits natürlich unendlich viel an biologischen Voraussetzungen für das Klavierspielen namhaft machen; aber das Entscheidende ist, was jemand daraus macht und was an individueller Leistung entsteht. Und damit meine ich nicht Reproduktion: Wenn ich ins Konzert gehe und sehe auf dem Programm eine Mozart-Sonate, würde ich doch nicht zu meiner Frau sagen: „Du, die haben wir ja schon einmal gehört, da gehen wir wieder nach Hause.“ Es ist vollkommen klar, dass ich nicht in das Konzert gehe, damit mir jemand das Stück reproduziert wie ein Computer, der die Noten herunter tippt, sondern ich gehe ja hin – und jetzt kommen wir auf den Punkt –, damit es mir jemand individualisiert.
Und daher behaupte ich: Der Erfolg bei der Umsetzung des Talents ist nicht ein hohes Maß an Reproduktion, sondern es ist Innovation. Also soll man bei Kindern auf der Basis der biologischen Leistungsvoraussetzungen fördern und fordern, dass diese durch harte Arbeit in etwas umgesetzt werden, das es noch nie gegeben hat. Das ist der entscheidende Punkt. Und umso mehr es individualisiert ist, umso interessanter ist es – wobei natürlich „anders“ alleine noch nicht die Lösung ist. „Anders“ ist per se noch nicht „besser“, aber wenigstens ist es erst einmal anders und wir sind nicht in die Durchschnittsfalle getappt: Nichts entspricht dem einzelnen Menschen so wenig wie der Durchschnitt, und es gibt nichts Ungerechteres als den Durchschnitt. Gerecht kann ich eigentlich nur sein, wenn ich dem einzelnen individuellen Menschen individuell entspreche.
Lesen Sie weiter in Ausgabe 2/2013.