Behschnitt, Rüdiger

Wir können alle so viel voneinander lernen

Was macht eigentlich die Europäische ­Musikschul-Union? Rüdiger Behschnitt hat bei EMU-Präsident Gerd Eicker ­nachgefragt

Rubrik: Gespräch
erschienen in: üben & musizieren 2/2009 , Seite 40

Dr. Gerd Eicker leitete 29 Jahre die Stadtjugendmusik- und Kunstschule Winnenden in der Nähe von Stuttgart. Nahezu genau so lange engagiert er sich im Verband deutscher Musikschulen (VdM) für die Entwicklung des Musikschul­wesens, wofür er verschiedenste Ehrungen erfuhr seitens des Landes Baden-Württemberg, des Landesverbands und des Bundesverbands des VdM. In beiden Organisationen wurde er nach Beendigung des Vorsitzes zum Ehrenvorsitzenden gewählt. Im vergangenen Jahr erhielt er das Bundes­verdienstkreuz. Seit zwei Jahren ist Gerd Eicker Präsident der Europäischen Musikschul-Union, in deren Präsidium er seit 1996 arbeitet. Neben vielen Veröffent­lichungen zu aktuellen Fragen der Musikpädagogik ist er Herausgeber der Reihe „Start zu Zweit“ für Instrumental­anfänger.

Lieber Herr Eicker, die European Music School Union (EMU) ist der Dachverband der nationalen Musikschulverbände in Europa. Was darf man sich darunter vorstellen? Für wen ist dieser Verband, was genau wird dort getan oder beschlossen?
Mit großer Weitsicht wurde vor mehr als 30 Jahren die EMU von sieben nationalen Verbänden unter der Federführung des damaligen VdM-Vorsitzenden Diethard Wucher gegründet. So trägt denn auch die Satzung sehr deutsche Züge – als Gründungsort wurde aber Liestal in der Schweiz gewählt, angesichts der damaligen politischen Lage eine kluge Entscheidung. Heute allerdings ist dieser Ort hinderlich, da wir als Organisation nach Schweizer Recht keine EU-Mittel für unser Generalsekretariat erhalten. Eine Verlagerung der Registrierung in ein EU-Land ist daher unumgänglich. Dies ist übrigens nur über eine formale Neugründung möglich – als kleiner Einblick in die Komplexität europäischen Rechts!
Folgende Ziele hatte sich die EMU bei ihrer Gründung gesetzt, die auch heute noch Gültigkeit haben: Förderung der Musikerziehung und der musikalischen Praxis, Zusammenarbeit durch Informationsaustausch in allen die Musikschulen betreffenden Fragen, Förderung des Austauschs von Studiendelegationen – Lehrern, Schülern, Orchestern, Chören, anderen Musiziergruppen und Ähnlichem –, Wecken des Interesses der zustän­digen Behörden und der Öffentlichkeit an Fragen der Musikerziehung allgemein, der Hinführung zum Laienmusizieren und zum Musikstudium, Mithilfe bei der Gründung und beim Aufbau nationaler Zusammenschlüsse von Musikschulen sowie der Aufbau systematischer Kontakte zu interessierten supranationalen Institutionen.
Heute gehören unserer europäischen Dachorganisation 26 nationale Verbände an: Österreich, Belgien, Kroatien, Tschechien, Dänemark, England mit Wales und Nordirland, Estland, Finnland, Frankreich, Deutschland, Ungarn, Irland, Island, Italien, Lettland, Liechtenstein, Luxemburg, die Niederlande, Norwegen, Polen, Serbien, Slowakei, Slowenien, Spanien, Schweden, die Schweiz sowie als ständiger Gast die Faroer Inseln. Alle nationalen Verbände gehen konform mit der „Weimarer Deklaration“, die ich anlässlich der Generalversammlung 1999 in Weimar initiiert habe.1 Sie ist fast zu einem „Glaubensbekenntnis“ geworden, dem jedes neue Mitglied zustimmen muss. Zurzeit stehen wir hier in Kontakt mit Portugal, Griechenland und Litauen. Ansatzweise beraten wir die Türkei bei der Schaffung von nationalen Strukturen. In den letzten Jahren verzeichnen wir ein wachsendes Interesse an der EMU, was sicherlich mit dem Zusammenwachsen Europas als Kulturraum zu­sammenhängt, vielleicht aber auch mit unseren zunehmenden Aktivitäten.
Ein besonderes Ereignis ist sicherlich das alle zwei bis drei Jahre stattfindende Europäische Jugendmusikfest mit 8000 bis 10000 Teilnehmern, so im Jahr 2007 in Ungarn und 2009 in Österreich. Die alljährlichen Generalversammlungen in jeweils einem anderen Land (dieses Jahr in Linz, 2010 in Essen) dienen dem Erfahrungsaustausch, der Darstellung neuer pädagogischer Entwicklungen mit Fachreferenten und der Präsenz auf der politischen Ebene des jeweiligen Gastgeberlandes. Hierzu sind wir übrigens auch in Straßburg im Europarat als INGO (international non gouvermental organization) tätig in der Sektion „Éducation et Culture“.
2007 haben wir begonnen, mit zusätzlichen Tagungen den Austausch zu intensivieren. So fand im Herbst in Prato eine mehrtägige Konferenz der Geschäftsführer der nationalen Verbände statt. Im Zentrum stand die Vermittlung von Kenntnissen über die verschiedenen EU-Programme. Im Herbst 2008 fand in Livorno eine Konferenz von über 30 Musikschuldirektoren aus 17 verschiedenen Ländern statt mit dem Ziel, auf der Basis bestehender EU-Programme gemeinsame internationale Projekte in den Schulen zu entwickeln. Insgesamt sieben Projekte unterschiedlicher Größenordnung fanden dort ihren Startpunkt.
Seit zwei Jahren bieten wir nationalen Verbänden bei politisch bedingten Schwierigkeiten unsere Hilfe an. In Island konnten wir den Aufbau einer Musikschulorganisation bewirken und begleitend unterstützen. In Italien untermauerten wir das Bestreben des Verbands zur gesetzlichen Verankerung der musikalischen Bildung. Mit unseren Präsidiumssitzungen wandern wir durch Europa und haben dort stets produktive Begegnungen mit den jeweiligen Vertretern der Kulturpolitik.
In diesen Monaten versuchen wir mit Hilfe der neu gestalteten Internetseiten unter „emu4you“ eine community aufzubauen, an der nicht nur die Verbände, sondern auch die über 6000 Schulen, die 150000 Lehrkräfte und sogar die Schülerinnen und Schüler teilhaben können. Des Weiteren stehen wir in Kontakt zu den Kunstschulverbänden, da wir auf der europäischen Ebene das Bewusstsein für die Notwendigkeit der Förderung kultureller Bildung stimulieren wollen. Das zu bestellende Feld scheint sich auszudehnen und, um in der Agrarsprache zu bleiben (in der EU wird sie ja verstanden), die Bewirtschaftung wird immer intensiver – wenn wir den nötigen Dünger erhalten: Der gute Samen ist vorhanden.

Erzählen Sie uns ein wenig von Ihrem persönlichen Weg zur EMU: Was machen Sie genau, was ist Ihnen besonders wichtig?
Zur EMU oder besser gesagt ins Präsidium der EMU kam ich 1995 als Nachrücker für Reinhart von Gutzeit, meinem Vorgänger im Amt des Vorsitzenden des VdM. Diese neue Aufgabe übernahm ich sehr gern, da ich eine Reihe von internationalen Partnerschaften in mei­ner Winnender Musik- und Kunstschule pflegte und diese Arbeit als sehr wichtig ansah. Der damalige Präsident der EMU war Josef Frommelt aus Liechtenstein, der gleichzeitig auch ein erfahrener Europapoli­tiker war. Als Josef Frommelt seine Präsidentschaft beendete, wurde ich für die Nachfolge angefragt; aber eine Musikschule, einen so großen Verband wie den VdM und einen internationalen Verband zu leiten, das schien mir doch zu viel. So wurde Jan van Muilekom, der Geschäftsführer des niederländischen Verbandes, Präsident und ich Vizepräsident.
Sechs Jahre arbeiteten wir gut und intensiv zusammen. In diese Zeit fielen meine Untersuchung zur pädagogischen Ausbildung der Musikschullehrer in Europa,2 die Neufassung der Statistik mit ständiger Aktualisierung und zwei internationale Lehrerfortbildungen auf der Musikschulakademie Schloss Kapfenburg. Wir organisierten unterschiedlichste internationale Konferenzen mit Kulturpolitikern aus ganz Europa.
Im Sommer 2006 legte Jan van Muilekom aus persönlichen Gründen plötzlich sein Amt nieder. Ich konnte aus gesundheitlichen Gründen nicht übernehmen und so wurde Timo Vijola aus Finnland Präsident. Leider erlitt er nur wenige Monate später einen Schlaganfall. Mein Gesundheitszustand hatte sich inzwischen stabilisiert, sodass ich in die Arbeit einsteigen konnte. Auf Anregung des VdM kandidierte ich dann bei der ordentlichen Wahl 2007 und wurde für vier Jahre ge­wählt. Mein erstes Anliegen war, die EMU zu verselbstständigen. Bis 2007 finanzierte der Verband des amtierenden Präsidenten das Generalsekretariat. Daher befand sich dessen Sitz in Utrecht. Die dort entstandene Kompetenz in der Person der Generalsekretärin Gerrie Koops durfte nicht verloren gehen!
Durch einen ausgewogenen Vorschlag zur Finanzierung gelang die Unabhängigkeit. Heute finanziert sich die EMU ausschließlich durch die Beiträge der Mitglieder. Der nächste Schritt wird die Alimentierung durch EU-Mittel sein. Hierzu muss allerdings, wie schon erwähnt, via Neugründung der Sitz verlegt werden. Aber nur mit entsprechender finanzieller Ausstattung werden wir unsere Ziele für unsere Mitglieder erreichen können, sodass wir wirklich sagen können: „Musik macht Europa!“

Gerade im Bereich der Bildung gibt es in den europäischen Staaten große Unterschiede. Seit PISA schaut etwa die deutsche Bildungspolitik gebannt nach Finn­land. Auch das Musikschulwesen in Europa ist sehr heterogen. Was bedeutet das für Ihre Arbeit? Denkbar wäre ja, die Vorteile jedes Systems zu ana­lysieren und die Ergebnisse zur qualitativen Verbesserung der nationalen Verbandsstrukturen einzusetzen…
Diesen Ansatz verfolgen wir seit zwei Jahren. In den letzten Generalversammlungen der EMU haben sich die einzelnen Verbände nach einem vorgegebenen Fragenkatalog vorgestellt: Nord-, Ost- und Mitteleuropa. In diesem Jahr wird mit Südeuropa der Schlusspunkt gesetzt und die Ergebnisse werden in einem Buch veröffentlicht werden.
Das „Voneinander lernen“ ist eines der Hauptanliegen der EMU. Unter diesem Aspekt organisierten wir die internationalen Tagungen der Geschäftsführer in Prato und Mailand, die Lehrerfortbildungen auf Schloss Kapfenburg und in jüngster Zeit das Direktoren-Seminar in Livorno. Dort wurde die Anregung zu einem Projekt gegeben, das sich mit der Schulleiterausbildung in den verschiedenen Ländern beschäftigen wird und in eine internationale Schulleiterfortbildung münden soll.
Zur Qualität sei noch eine Anmerkung erlaubt: Viele Länder schauen bezüglich der Musikschularbeit „neidvoll“ nach Deutschland, wohingegen wir wiederum andere beneiden. Hierbei dürfen wir die sehr unterschiedlichen Ansätze nicht übersehen. Auf einen ein­fachen Nenner gebracht: Breitenarbeit versus Spitzenarbeit. In Deutschland arbeiten viele Musikschulen an der Aufhebung dieses scheinbaren Gegensatzes. Voraussetzung dazu sind allerdings die finanziellen und personellen Möglichkeiten. Finnland hin­gegen öffnet zunächst allen Kindern den Zugang zu einer elementaren musikalischen Bildung, um dann in einer gezielten Talentförderung weiterzuarbeiten, die mit einem strengen Prüfungssystem verbunden ist. Ein Modell für Deutschland? Ich glaube nicht. Die Frühstförderung, die Musikalisierung von Säuglingen hingegen, wie wir sie in Kuopio überzeugend erleben durften, hat der VdM bereits aufgenommen.

Wenn es um europäische Institutionen geht, „fremdeln“ die meisten Bürger in der EU: Europa wird meist als überbürokratisierter Moloch empfunden. Wie geht die EMU mit diesem Grundmisstrauen um? Wie kommt die Arbeit an der Basis an, oder anders gefragt: Was hat die Blockflötenlehrerin an der Musikschule Butzbach von der EMU?
Glücklicherweise haben wir mit diesem Grundmisstrauen nicht zu kämpfen. Die Gründe hierfür mögen in der uns verbindenden gemeinsamen Sprache Musik, in der produktiven Neugier der Kollegen und Kolleginnen auf andere Musikschulsysteme oder auch in der Genügsamkeit der Organisation EMU liegen, die mit einem „low budget“ einiges zustandebringt.
Nur einige Beispiele, was an der Basis unmittelbar ankommt: das Europäische Jugendmusikfest, das alle zwei bis drei Jahre stattfindet und an dem sich die Blockflötenlehrerin aus Butzbach mit ihrem Ensemble für Alte Musik beteiligen kann; Lehrerfortbildungen auf der internationalen Musikschulakademie Schloss Kapfenburg z. B. zum Gruppenunterricht; internationaler Lehreraustausch zum Thema Kooperation mit all­gemein bildenden Schulen; eine internationale Schulleiterfortbildung zu gemeinsam eruierten Themen; Ver-
­­öffent­lichungen zur Lehrerausbildung in den verschiedenen Ländern; eine Statistik in Buchform; eine inte­ressante Website. – Das alles leisten wir mit einer Generalsekretärin, die dafür acht Stunden pro Woche zur Verfügung hat!

Was sind Ihre Pläne für dieses Jahr? Was können die Musikschullehrkräfte in Deutschland als nächstes von der EMU erwarten?
Unsere konkreten Pläne und Arbeitsfelder für 2009 sind die Neugründung der EMU mit Sitz in Bonn bei gleichzeitiger Liquidation des Verbands nach Schweizer Recht, um EU-Fördermittel in Anspruch nehmen zu können. Wir planen einen intensiven Erfahrungsaustausch zur Kooperation mit anderen Künsten sowie mit allgemein bildenden Schulen während der Generalversammlung in Gmunden, eine Supervision des Europäischen Musikfests in Linz, den Besuch des polnischen, des kroatischen und wahrscheinlich auch des serbischen Kultusministeriums mit dem Ziel der stärkeren Einbindung und die Planung und Durchführung eines weiteren Managementkurses für die nationalen Verbände im Herbst in Mailand.
Ich wünsche mir bei all diesen Vorhaben, dass sie ge­lingen und der EMU mehr Finanzspielraum geben, um die Europäisierung der Musikschularbeit vorantreiben zu können. Hierzu zählt auch der Aufbau einer community auf der Internet-Plattform der EMU (www.music­school­union.eu) bis Juni, wo Musikschullehrkräfte sich in Zukunft unproblematisch begegnen und Erfahrungen austauschen können, neue Projekte aus ihren Schulen vorstellen und natürlich auch persönliche Begegnungen mit und ohne Schüler vorbereiten können. Wir können alle so viel voneinander lernen, wenn wir un­se­re loka­len und nationalen Grenzen überschreiten.

1 nachzulesen unter www.miz.org/musikforum/mftxt/mufo9216.htm
2 Gerd Eicker und Arthur Gieles: The educational training of music school teachers in the domain of instrumental/vocal studies in Europe – Die pädagogische Ausbildung von Musikschullehrer(inne)n im inst­rumentalen/vokalen Bereich in Euro­pa. Ergebnis einer Umfrage (englisch/deutsch), Download unter www.musicschoolunion.eu > Activities > EMU projects

Lesen Sie weitere Beiträge in Ausgabe 2/2009.