© Jürgen Simon

Bossen, Anja

Worte kann man nicht essen

MusikpädagogInnen zwischen politischem Anspruch und Realität

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 3/2020 , Seite 10

Es hat sich nichts geändert: Zwischen der in politischen Reden proklamierten gesell­schaftlichen Wichtigkeit musikpädagogischer Arbeit und den realen Arbeitsbedingungen vieler Musikpädagoginnen und -pädagogen besteht ein großer Widerspruch.

Als ich in den 1990er Jahren meine ersten Berufsjahre an einer Berliner und einer Brandenburgischen Musikschule absolvierte, hatte Deutschland einen Innenminister, der der Meinung war, dass der Besuch einer Musikschule gut für die innere Sicherheit sei. Damit sprach er den kommunalen Musikschulen und den an dieser Institu­tion tätigen Lehrkräften eine immense gesellschaftliche Bedeutung zu. Das hinderte die Politik jedoch nicht daran, um das Jahr 2000 herum in der einen oder anderen Kommune Musikschulen abzuwickeln bzw. in eine private Rechtsform zu überführen und Lehrkräfte entweder ganz zu entlassen oder sie sozial und finanziell schlechter zu stellen, indem Festanstellungen in Honorarverträge umgewandelt wurden. Im Jahr 2000 war das Thema „innere Sicherheit“ allerdings auch noch nicht zu einem gesellschaftlichen Hauptthema avanciert, Rechtspopulismus, Rechtsterrorismus oder Anschläge durch islamistische Attentäter noch nicht diskursbeherrschend. Doch nicht nur Otto Schily wies damals auf die herausragende gesellschaftliche und wichtige Arbeit von Musikschullehrkräften hin, sondern auch mehrere Bundespräsidenten teilten seitdem die Ansicht, dass Musikschullehrkräfte eine höchst wichtige gesellschaftliche Aufgabe innehaben.

Leider hält die politische Wertschätzung, die sich in unserer Gesellschaft in der Regel durch Entlohnung, Status und Aufstiegschancen ausdrückt, mit den neuen, zusätzlichen Anfor­derungen in keiner Weise Schritt.

Bis heute hat sich an den warmen Worten von Politikern über die Nützlichkeit und den hohen gesellschaftlichen Wert von Musikschularbeit nichts geändert. Inzwischen sind tatsächlich auch einige „nützliche“ Transfereffekte musikalischer Betätigung in Studien gemessen worden, was das politische Lob nun auch mit einer wissenschaftlichen Datenbasis versieht; heute, über zwanzig Jahre nach Beginn meiner Lehrtätigkeit, finden sich nahezu die gleichen Zitate und Beschwörungen der hohen gesellschaftlichen Bedeutung von Musikpädagogik – verstanden als praktisches Musizieren in einer Vielfalt unterschiedlichster Formate und Formen – und deren Wirkungen in Grußworten, auf Internetseiten musikpolitischer Verbände, in Eröffnungsreden auf Kongressen oder in Hochglanzbroschüren von Stiftungen.
Geändert hat sich am Lob der Musikpädagogik in den letzten zwanzig Jahren also nichts, eher im Gegenteil. Mit dem Aufkommen neuer gesellschaftlicher Probleme wie dem Auseinanderdriften der Gesellschaft durch soziale Spaltung und zunehmende Individualisierung, mit Terroranschlägen und Rechtspopulismus werden der Kulturellen Bildung und damit auch der Musikpädagogik heute neue, zusätzliche (sozial-)politische Aufträge erteilt,1 während Musikschulen bis etwa zum Jahr 2000 vorrangig als Bildungseinrichtungen für musikinteressierte Kinder, Jugend­liche und auch Erwachsene betrachtet wurden, deren Aufgabe darin bestand, musikalische Fertigkeiten zu vermitteln. Außermusikalischen Transfereffekten wurde bis dahin keine besondere Aufmerksamkeit zuteil, auch nicht als Gegenstand der musikpädagogischen Forschung.

1 vgl. hierzu den Hinweis auf die Diskussion um eine mögliche stärkere Funktionalisierung und Legitimierung der Kulturellen Bildung zum Zweck der Vermittlung von Normen und politischen Ideen bei Susanne Keuchel: „Zur Entwicklung von Werten seit den 1970er Jahren und ihr Einfluss auf Gesellschaft und Kulturelle Bildung“, in: Susanne Keuchel/Viola Kelb (Hg.): Wertewandlung in der Kulturellen Bildung, Bielefeld 2018, S. 46.

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