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Chekulaeva, Julia

Wozu Noten, wenn es Ohren gibt?

Wie Klavierschulen nach dem Ansatz auditiven Lernens verstärkt Einzug in den Unterricht halten könnten

Rubrik: Methodik
erschienen in: üben & musizieren 1/2024 , Seite 40

Über die Bedeutung auditiven Lernens wird in der Klavierpädagogik seit Beginn des 20. Jahrhunderts bis heute viel gesprochen. Doch auch wenn auditives Lernen sehr geschätzt wird, scheinen nach dieser Leitvorstellung konzipierte Klavierschulen weniger verwendet zu werden. Dieser Beitrag erörtert mögliche Gründe und arbeitet anschließend Ideen heraus, wie sie verstärkt Einzug in die Unterrichtspraxis halten könnten.

„Wozu Noten, wenn es Tasten gibt?“1 – so beschreibt die russische Dichterin und Schriftstellerin Marina Zwetajewa rückblickend, wie sie als Kind einen Zugang zum Klavierspiel über das Gehör bevorzugte, während ihr das Spiel nach Noten Schwierigkeiten bereitete. Damit deutet sie etwas an, das auch heute noch in Klavierklassen anzutreffen ist: ein buchstabierendes Notenlesen ohne Hörverstehen, „Tastendrückerei“ anstelle von Musizieren. Um dies zu verhindern, bietet es sich an, auditives Lernen ins Zentrum des Unterrichts zu stellen. Die Grundidee ist, „daß […] alle musikalischen Kenntnisse gehörmäßig dargeboten, das heißt vom Schüler unmittelbar durch das Ohr aufgefasst werden“.2 Man könnte also noch viel treffender fragen: „Wozu Noten, wenn es Ohren gibt?“
Die Vorteile auditiven Lernens werden in der entwicklungspsychologischen und neurowissenschaftlichen Forschung zum Musizierenlernen deutlich. Auditives Lernen bietet Raum für kindliche Neugier sowie Fantasie und zielt in häufig auch explorativen Prozessen unter anderem auf einen mühelosen und kindgerechten Einstieg ins Klavierspiel, eine klangbezogene Wahrnehmung der Notenschrift, das Erkennen von Tonhöhen-Mustern, die Wahrnehmung von Musik als Ästhetisches, die Entwicklung von Fähigkeiten des Sich-selbst-Zuhörens und im Allgemeinen auf die Förderung der Musikalität.
Durch die Unabhängigkeit von Noten wird es möglich, das Spektrum der Aufgaben im Anfangsunterricht deutlich zu erweitern. Entsprechend empfehlen der VdM-Lehrplan Klavier3 sowie z. B. Klaus Wolters’ Orientierungsmodelle Klavier für die Unterstufe4 den Einstieg ins Klavierspielen ohne Noten. Die ersten Monate sollen sich dem Kennenlernen des Instruments, der Entwicklung von Körperbewusstsein, dem Zuordnen von Tönen und Tasten, dem Spiel nach Gehör und der elementaren Improvisation widmen. Im Weiteren ist das Auditive durch Transponieren und Arrangieren der gelernten Lieder sowie Improvisation zu fördern. Peter Heilbut fordert, auch beim Spielen nach Noten „hörend zu lesen, lesend zu hören“.5 Ebenso heben Ulrike Wohlwender und Martin Widmaier die Relevanz auditiver Wahrnehmung beim „Musizierenden Lernen“6 und beim „Musizieren als Übmethode“7 hervor.

Was ist beliebt?

Trotz der Vorteile auditiven Lernens und des vielfältigen Angebots von methodischen Konzepten, die den auditiven Ansatz ins Zentrum von Klavierschulen stellen, führen laut Amazon-Verkaufscharts8 diejenigen Klavierschulen das Ranking an, in denen auditives Lernen wenig oder gar nicht explizit in Erscheinung tritt. Hierzu gehört beispielsweise die sehr gut verkaufte Klavierschule Piano Kids (Band 1)9 von Hans-Günter Heumann. Dem Vorwort zufolge wird auditives Lernen wertgeschätzt: Versprochen werden das Spielen nach Gehör von Anfang an ohne Notenlesen und Fingersatz sowie das Improvisieren, Komponieren und die Förderung der Kreativität. Am Anfang des Hefts findet man auch entsprechend angelegte Aufgaben: beispielsweise eine atonale Improvisation und drei Kinderlieder, die nach Gehör gelernt werden sollen. Bereits ab Seite 12 ändert sich dies jedoch: Es werden die Notennamen vermittelt, zwei weitere Lieder werden nach Tastenbildern gespielt (zwar ohne Noten, aber dennoch nicht auditiv) und es folgen die ersten Stücke nach Noten. Vom Hören oder Spielen nach Gehör sowie dem versprochenen Improvisieren und Komponieren ist keine Rede mehr. Auch in kleinen Anweisungen für die KlavierspielerInnen wird entweder an das körperliche Wahrnehmen appelliert – „Wenn der Ton laut (forte) gespielt werden soll, drückt man die Taste bis zum Tastengrund mit vollem Armgewicht nieder“ – oder es rücken kog­nitive Aspekte des Lernens in den Mittelpunkt: „Man lernt viel schneller, wenn man in kleinen Portionen, sprich in Abschnitten, übt.“
Darüber hinaus ist die Qualität des musikalischen Materials der ersten Stücke erwähnenswert. Obwohl versprochen wird, ohne „langweilige und trockene Übungsstücke“ auszukommen, erweisen sich einige Stücke dennoch als „trockene“ Übungen ohne künstlerisch-musikalischen Wert. Viele Stücke, die mit lustigen Bildern dekoriert sind und einen Titel haben, drücken musikalisch nicht aus, was der Titel verspricht. Ob es mit einem solchen Repertoire gelingt, Anreize für auditive Vorstellungsbildung zu provozieren, ist fraglich. Auditives Lernen verschwindet in diesem Heft jedenfalls zu schnell, um den Lernprozess maßgeblich zu beeinflussen. Es wird nicht als bestimmendes methodisches Element verwendet, sondern vielmehr für einen möglichst motivierenden Einstieg ins Klavierspielen ohne Vorkenntnisse.
Ähnlich konzipierte Klavierschulen gibt es viele, sie kommen neu auf den Markt und scheinen gut verkauft zu werden. Die Beliebtheit dieser Klavierschulen bei Klavierpädagoginnen und -pädagogen hängt jedoch nicht damit zusammen, dass es keine Alternative gebe. Im Gegenteil: Es gibt eine Reihe von Klavierschulen, die den auditiven Ansatz ins Zentrum stellen. Zu nennen sind zum einen Klavierschulen, die explizit nach der Suzuki-Methode10 oder nach Edwin E. Gordons music learning theory11 konzipiert sind. Diese Schulen verzichten auf das Spielen nach Noten für längere Zeit und erfordern eine entsprechende Fortbildung der Lehrkräfte.
Zum anderen sind Konzepte wie 1 2 3 Klavier12 von Claudia Ehrenpreis und Ulrike Wohlwender, Wir am Klavier13 von Malte Heygster und Wolfgang Schmidt-Köngernheim oder Das kleine Land14 von Martin Widmaier zu nennen, die auditives Lernen und Gehörentwicklung in den Lernprozess einflechten. Auch wenn diese Klavierschulen methodisch sehr durchdacht sind und über einen ausführlichen Kommentar für Lehrende verfügen, scheinen sie im Vergleich zu nicht nach auditivem Lernen konzipierten Klavierschulen weniger Verwendung in der Praxis zu finden.

1 Zwetajewa, Marina: Mutter und die Musik, übersetzt aus dem Russischen von Ilma Rakusa, Berlin 2016, S. 12.
2 Varró, Margit: Der lebendige Klavierunterricht. Seine Methodik und Psychologie, Leipzig 1929, S. 11.
3 Verband deutscher Musikschulen e. V.: Lehrplan Klavier, Kassel 2009, S. 19 f.

4 Wolters, Klaus: Orientierungsmodelle Klavier. Unterstufe, Kassel 1975, S. 11 f.
5 Heilbut, Peter: Klavier spielen. Früh-Instrumentalunterricht. Ein pädagogisches Handbuch – Praktischer Teil, Mainz 1993, S. 202.
6 Wohlwender, Ulrike: „Von der Skizze zum Bild: Musizierendes Lernen in der Klavierstunde und zuhause“, in: EPTA-Dokumentation 2017/2018, Düsseldorf 2019, S. 115-127.
7 Widmaier, Martin: „Musizieren als Übmethode: Ein Protokoll“, in: EPTA-Dokumentation 2002/ 2003, Düsseldorf 2013, S. 82-90.
8 siehe amazon.de – „Bestseller in Musiknoten“, www.amazon.de/gp/bestsellers/books/1199902/ref=zg_bs_nav_books_1 (Stand: 19.11.2023).
9 Heumann, Hans-Günter: Piano Kids. Die Klavierschule für Kinder mit Spaß und Aktion, Band 1, Mainz 1995.
10 Suzuki, Shinichi: Suzuki Piano School, New International Edition, Vol. 1, Köln 1996.
11 Lowe, Marilyn: Music Moves for Piano, Book 1, Chicago 2004.
12 Ehrenpreis, Claudia/Wohlwender, Ulrike: 1 2 3 Klavier. Klavierschule für 2-8 Hände, Wiesbaden 1995.
13 Heygster, Malte/Schmidt-Köngernheim, Wolf­gang: Wir am Klavier. Musik zum Singen und Spielen, Mainz 2000.
14 Widmaier, Martin: Das kleine Land. Alles für den Anfang am Klavier, Heft 1, Frankfurt am Main 2005.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 1/2024.