Doerne, Andreas

Ziel ist Lebenskompetenz und charakterliche Reife

Gespräch mit Markus Kiefer, dem pädagogischen Leiter der Freiburger Fußballschule, über die Förderung ­begabter Jugendlicher

Rubrik: Gespräch
erschienen in: üben & musizieren 2/2013 , Seite 36

Nach dem frühen Ausscheiden der deutschen Fußball-Nationalmannschaft bei der EM 2000 haben im Bereich der fundierten Förderung junger Fußballtalente in Deutschland revolutionäre Umwälzungen stattgefunden, deren nachhaltige Effekte mittlerweile deutlich zu Tage treten. Bei diesem Prozess spielte die vom Bundesligaverein SC Freiburg betriebene Freiburger Fußballschule eine zentrale Rolle als Ideengeberin und Vorreiterin. Inzwischen ist sie unter den renommiertesten Leistungszentren für junge Nachwuchsspieler in Deutschland fest etabliert. Grund genug, diese nur wenige hundert Meter von der Freiburger Musikhochschule entfernte Talentschmiede zu besuchen, um in Erfahrung zu bringen, nach welchen Grundsätzen dort fußballerisch begabte Jugendliche gefördert werden und was wir als in der musikalischen Ausbildung Tätige davon lernen können. Markus Kiefer kümmert sich als einer von zwei hauptamtliche Pädagogen darum, dass bei der schulischen und beruflichen Ausbildung der Fußballschüler alles in geregelten Bahnen läuft, und pflegt den Kontakt zu den Eltern. Er ist Sozialbegleiter im Alltag und betreut zusammen mit dem pädagogischen Team die Jugendlichen rund um die Uhr.

Herr Kiefer, wie hat es mit der Freiburger Fußballschule begonnen?

Wir haben mit unserem Nachwuchs-Leistungszentrumim Jahr 2000 eigentlich genau zur richtigen Zeit angefangen. Obwohl wir nicht die ersten waren, die sich umeine fundierte Nachwuchsarbeit bemüht haben, war die Fußballschule zum Zeitpunkt ihrer Gründung tatsächlich vorbildlich in dem Sinne, alles an einem Ort zuhaben, eine tolle Infrastruktur, ein tragfähiges Konzept. Mittlerweile hat jeder Bundesligaverein ein eigenes Nachwuchs-Leistungszentrum, und entsprechend beginnt der Wettbewerb um die Talente schon in viel früherem Alter als noch vor zehn Jahren. Und wir müssen uns entsprechend darauf einstellen: Wie können wir dem begegnen, dass heute bereits 14-Jährige auf dem Markt heiß umworben sind? Wie können wir das auch pädagogisch auffangen? Von wo wollen wir die Jugendlichen überhaupt herholen?

Die intensive Verankerung der Freiburger Fußballschule in der Region scheint ein wichtiges Merkmal der Freiburger Ausbildungsphilosophie zu sein…

Wir wollen vor allem regional ausbilden. Daher haben wir uns von Anfang an dazu entschieden, in der Fußballschule keine F- und E-Jugend-Mannschaft zu haben, sondern diesen Bereich in enger Zusammenarbeit mit unseren Partnervereinen in der Region auszubauen, auch damit die Kinder keine langen Anfahrtswege zum Training haben. Außerdem möchten wir nicht, dass einfußballerisch talentiertes Kind zu früh irgendwelche Erwartungen bei Eltern, Verwandten und Bekannten weckt, die es dann nicht erfüllen kann. Kurz gesagt: Regionalität stärken, mit Partnervereinen arbeiten, Kinder so lange wie möglich in ihren Vereinen vor Ort belassen.

Das klingt nach einer engen Verzahnung von Spitzen- und Breitenförderung.

Obwohl es bei uns in erster Linie um Leistungsfußball geht, wollen wir trotzdem beides: die Spitze und die Breite fördern. Dazu haben wir mit inzwischen fünf regionalen Vereinen eine enge Partnerschaft aufgebaut. Viele unserer Schüler, bei denen es für eine Karriere als Profifußballer nicht ganz gereicht hat, gehen dann wieder zurück in ihre Vereine hier aus der Region, aus denen sie zu uns gekommen sind, spielen für ihren Verein und heben dort das Niveau.

Sie haben in der Fußballschule etwa 140 Schüler, da -von 16, die hier im Internat direkt auf dem Trainingsgelände wohnen. Wie läuft die Aufnahmeprüfung fürneue Spieler ab?

Es gibt bei uns keine Prüfung im Sinne eines einmaligen Vorspielens, von dem dann alles abhängt. Sondern ein Junge wird von unseren Scouts zuerst bei alltäglichen Trainings- und Spielsituationen mehrere Male beobachtet, meistens ohne dass er es merkt, denn erkennt unsere Scouts ja nicht. So können wir uns schon ein gutes erstes Bild von ihm machen. Mittlerweile sind wir so gut in der Region verankert und unser Netzwerk ist so gut ausgebaut, dass wir fast mit Sicherheit aus -schließen können, dass uns ein Talent hier aus der Gegend verborgen bleibt.

Nach welchen Kriterien suchen Sie Ihre Schüler aus?

Ganz allgemein gesprochen suchen wir gezielt jene Jungs aus, die zu unserer Philosophie passen. Und wir sind in diesem Fall wirklich viele. In erster Linie sind da die Scouts zu nennen, die ein Talent zuerst entdecken. Nach einer ersten Kontaktaufnahme kommt der Bewerber dann zwei oder drei Tage zu uns ins Haus und macht fünf bis sechs Trainingseinheiten mit. Er wird medizinisch durchgecheckt, die Trainer beobachten ihn, wir Pädagogen lernen ihn kennen, machen uns ein Bild von ihm, indem wir uns intensiv mit ihm und den Elternaustauschen. Auch die Schulzeugnisse interessiere nuns. Am Ende müssen alle Beteiligten – wir, die Eltern und der Schüler – gleichermaßen überzeugt sein.

Gibt es Persönlichkeitseigenschaften, die ideal für einen Schüler der Fußballschule sind?

Wir brauchen Jungs, die raus auf den Platz wollen, die spielen wollen, die auch mal von sich aus Extraschichten einlegen, um für sich allein beispielsweise Standards und Freistöße zu üben. Natürlich ist auch eine gewisse Zielstrebigkeit von Bedeutung, gerade wenn man in Betracht zieht, dass alle unsere Internatsschülerparallel zur fußballerischen Ausbildung einen Schulabschluss machen müssen. Unsere Schüler verfolgen neben dem großen Ziel, Profifußballer zu werden, immer auch ein zweites Ziel, nämlich den bestmöglichen Schulabschluss zu erreichen. Insgesamt sehe ich bei uns viele Jungs, die in ihrer kognitiven Entwicklung relativ weit sind. Das sind nicht alles Gymnasiasten, aber Typen, die mitdenken können, die kognitiv fit sind. Unser Spiel ist schließlich auch darauf angelegt, so anspruchsvoll zu sein, dass man als Spieler immer mitdenken muss. Wir wollen bewusst Spieler haben, die kombinieren können, die fantasievoll sind. Und das braucht einfach eine gewisse geistige Frische.

Das korrespondiert mit dem Ausbildungsprinzip im modernen Fußball, dass jeder Spieler im Lauf seiner Ausbildung jede Position kennen lernen soll, um so ein umfassendes Spielverständnis und ein hohes Maß an Flexibilität zu erlernen…

Ja. Einen Spieler nur auf einer Position einzusetzen, ist heute nicht mehr gängig. Auch haben sich die Aufgaben auf den einzelnen Positionen erweitert. Das Idealbeispielsweise eines Innenverteidigers ist nicht mehr der 1,90 Meter große Schrank, der einfach nur die Bälle nach vorne schießt, sondern er muss kreativ sein und als zweite Station nach dem Torwart intelligent von hinten heraus den Spielaufbau einleiten. Er muss heutzutage technisch und mental viel versierter sein.

Offenheit für Neues, die Suche nach Innovation ist das Geheimnis des SC Freiburg?

Vieles, was seit einigen Jahren als Neuigkeit gilt, gibt es bei uns schon sehr lange. Beispielsweise arbeiten unsere Trainer schon immer mit der Videoanalyse. Auch unsere Spielphilosophie war schon immer angelegt auf kreativen Fußball, hohe Passsicherheit, gutes Aufbauspiel. Ein ganz wichtiger Baustein war auch die Vorgabe vom DFB aus dem Jahr 2001, dass nur noch jene Vereine eine Bundesligalizenz erhalten, die in Nachwuchsarbeit investieren und auch ein eigenes Leistungszentrum zu diesem Zweck betreiben. Man sieht inzwischen, dass die Philosophie, eigene Talente auszubilden, Früchte trägt, gerade auch daran, dass die ausgebildeten Nachwuchsspieler tatsächlich oben ankommen, teilweise bis in die Nationalmannschaft hinein.

Es gibt auf dem Trainingsgelände der Fußballschulestraßensportähnliche Anlagen verschiedener Sportarten bzw. Bewegungsparcours zum selbstgesteuerten informellen Lernen nach dem offiziellen Training. Was hat es damit auf sich?

Im Grunde geht es um eine Wiederbelebung des Phänomens Straßenfußball, das es heute in Deutschland so nicht mehr gibt. Unsere Jungs hier in der Fußballschule sollen in ihrer Freizeit einfach rausgehen und Ballspielen können, und zwar selbstorganisiert, mitfreien Spielformen und selbst auferlegten Regeln, ohne dass wir als Erwachsene da irgendetwas vorgeben – sowie Straßenfußballer beispielsweise in den brasilianischen Favelas das heute noch tun. Es geht auch hierum Spaß und Freude am Spiel, um das Kreativsein. Neben der Außenanlage mit Tennisplätzen, Volleyballfeld, Basketballfeld und MiniSoccer-Court haben wir dafür in unserer Halle unter anderem auch Minitrampoline und Fußballtennisnetze. Und dieses vielfältige Angebot nutzen die Jungs auch. Da findet ganz viel informelles Lernen statt, das ohne unser Zutun quasi von selbst abläuft. Es findet aus eigenem Antrieb statt – und so macht Lernen doch am meisten Spaß!

Das erinnert mich an etwas, das ich über das Jugendtraining beim für seine hohe Spielkultur weltweit bewunderten FC Barcelona gelesen habe, nämlich dass dort bis zum Alter von 16 Jahren alle Trainingsinhalte über das Spielen mit Ball trainiert werden, zwischen Lernen und Spielen also kein großer Unterschied gemacht wird…

Statt die Jungs zwanzig Mal auf dem Platz hin- und her rennen zu lassen, bauen wir lieber einen Bewegungsparcours auf, der mit Ball am Fuß zu absolvieren ist. Ich kann auch am Ball, sozusagen ohne den Spielmodus zu verlassen, konditionelle Fertigkeiten trainieren. Das ist das große Ziel; allerdings auch nichts Neues mehr. Inzwischen machen das eigentlich alle so. Einfach weil es Sinn macht. Dieses Training, wie es früher praktiziert wurde –erst Aufwärmen, dann Gymnastik, alles ohne Ball –, gibt es nicht mehr.

Welche Rolle hat der Trainer für die Jugendlichen?

Trainer bedeutet bei uns in Freiburg immer Trainerteam, bestehend aus einem hauptamtlichen Chef-Trainer, zwei bis drei nebenberuflichen Co-Trainern sowie einem ausgebildeten Pädagogen oder Psychologen. Die Trainer sind für die meisten Jugendlichen eine Art Gatekeeper, also Respektpersonen und Jury in einem. Denn sie entscheiden über die weitere sportliche Laufbahn. Für unsere Spieler ist es z. B. nicht so schlimm, mit Küchendienst sanktioniert zu werden, falls etwas mal nicht so läuft, wie es laufen sollte. Viel schlimmer aus ihrer Sicht ist es, wenn ihr jeweiliger Trainer involviert wird. Er entscheidet am Wochenende, wer spielen darf und wer auf der Ersatzbank Platz nehmen muss.Und da das Spiel am Wochenende der absolute Höhepunkt ist, auf den die ganze Woche über hintrainiert wird, ist es das Schlimmste was passieren kann, wenn man bei diesem Spiel nicht dabei sein darf.

Gibt es da Ähnlichkeiten zum Prinzip der Meisterlehre in der Musik?

Nur dass dort der Meister eine einzelne Person und kein Team ist…Ja, es fehlt das Team. Und bei uns gibt es alle zwei Jahre automatisch einen Wechsel des Trainers dadurch, dass die Spieler in die nächste Altersklasse aufrücken. Das hat den Vorteil, dass ein Schüler im Lauf seiner Ausbildung unterschiedliche Trainerpersönlichkeiten kennen lernt, die aber alle ihr Training nach derselben Spielphilosophie ausrichten.

Wie steht es um die Disziplin im Internat?

Natürlich gibt es gewisse Dinge, die tabu sind, Alkohol und Nikotin zum Beispiel. Auch Ausgehen ist nicht immer drin. Wenn am Wochenende ein Spiel stattfindet, beginnt die Vorbereitung darauf schon zwei Tage vorher. Wenn also das Spiel am Sonntag stattfindet, muss bereits am Freitag entsprechend früher zu Bett gegangen werden. Auf der anderen Seite lassen wir die Zügel dann auch ein bisschen freier, wenn kein Spiel ansteht. Es ist ein gegenseitiges Vertrauen, das auch nicht ausgenutzt wird. Wichtig ist zudem, dass sich die Jungs nicht nur mit Fußball beschäftigen. Ab einem gewissen Altersagen wir ihnen auch: „Geht raus, ins Schwimmbad, in die Disco, was auch immer. Erlebt das, was alle anderen Jugendlichen auch erleben.“ Schlimm wäre es, wenn jemand mit Anfang 20 sagen würden: Ich habe bisher in meinem Leben auf so viel verzichtet, zum Profi hat es nicht ganz gereicht, ich hole jetzt alles auf ein -mal nach. Das schönste Ziel für mich als Pädagoge ist, wenn jemand das Haus verlässt und sagt, ich habe hier etwas Wertvolles mitgenommen, eine gewisse Lebenskompetenz und charakterliche Reife, die viele erstdeutlich später erreichen.

Wie ist die Atmosphäre im Internat, wie gestaltet sich der Umgang der Schüler miteinander? Gibt es Neid untereinander?

Es soll sich nicht alles, was ich von der Fußballschule berichte, rosarot anhören, aber was das Zusammen lebender Jungs hier im Internat angeht, gibt es wirklich auffällig wenig Reibereien. Vielleicht haben wir da den Vor -teil, dass über allem irgendwie das Sportliche schwebt. Auf gewisse Art gibt es natürlich auch eine Konkurrenzsituation unter den Gleichaltrigen, also Spielern ein und derselben Jugendmannschaft. Jeder will beim Spiel am Wochenende unter den ersten Elf sein. Das führt bei uns aber nicht zu einem Gegeneinander.

So eine Atmosphäre des respektvollen Umgangs und der gesunden Konkurrenz kommt ja letztendlich auch der Leistung der Mannschaft zugute…

Das ist definitiv so! Jetzt zur Winterpause kommen zweineue Spieler zu uns ins Internat. Da könnten die anderen sagen: Oh, das bedeutet zwei Plätze weniger, weil jetzt zwei Spieler mehr da sind, die wie ich um einen Platz in der Mannschaft kämpfen. Aber auch da ist genau der Punkt zu sagen: Ich habe gelernt, meine eigene Leistung einzuordnen, weil ich über Monatehinweg in Training und Spiel sowohl mein eigenes Niveau beobachte als auch das meiner Mitspieler. Und wenn jemand Neues kommt, der gut ist und dem Team weiterhilft, gibt das dem gesamten Team Aufschwung und wird entsprechend positiv bewertet. Nicht ich habe dadurch weniger Chancen, sondern wir als Team haben mehr Chancen.

Finden Sie es zu hoch gegriffen, wenn man so ein Verständnis von Mannschaftlichkeit, von Teamgeist letztlich als vorbildlich für gesellschaftliche Prozesseinsgesamt bezeichnet?

Das Ganze hat schon etwas von einer solidarischen Gemeinschaft: Jeder hilft dem anderen, damit es allen besser geht; damit wir erfolgreich sind. Wobei sich da schon die nächste Frage stellt, nämlich: Was ist Erfolg? Ist es Erfolg, wenn man Titel sammelt? Ist es Erfolg, wenn ein einzelner Spieler 18 Tore in einer Saison schießt? Ist es Erfolg, wenn man Tore verhindert? Oder ist es Erfolg, wenn man sieht: Ich habe aus meinen Möglichkeiten das Beste gemacht?

Sie neigen zu letzterer Definition?

Ja, natürlich!

Leistung wird bei Ihnen also nicht nach objektiven Kriterien bestimmt, sondern am Subjekt selbst gemessen?

Eine solche Sichtweise ist für ein Leistungszentrum erst einmal ungewöhnlich…Es ist nicht so widersprüchlich, wie es vielleicht scheint. Es geht um den Einzelnen, dass er das Beste aus seinen Möglichkeiten macht, die ihm gegeben wurden; sowohl sportlich als auch in Bezug auf die Persönlichkeitsentwicklung.

Lesen Sie weitere Beiträge in Ausgabe 2/2013.