Ludwig, Johanna
Zum Leben erweckt
Methodische Anregungen am Beispiel des Klavierstücks „Clowns“ von Dmitri Kabalewski
Notenlesen hat wie das Lesen von Texten bei Ungeübten den Charakter des Buchstabierens. Es findet eine Decodierung der einzelnen Zeichen statt, doch der größere Zusammenhang, der Aufschluss über Sinn und Bedeutung des Ganzen gibt, bleibt im Dunkeln. So entsteht eine Diskrepanz zwischen Verständnis und Lesefähigkeit, denn Schülerinnen und Schüler können meist weitaus komplexere Strukturen und Zusammenhänge hören und empfinden, als sie fähig sind zu lesen.
Dennoch werden neue Stücke im Unterricht allzu oft „erlesen“ und erst wenn der Notentext vertraut ist, wird ein freier Umgang mit der Musik ermöglicht. Wie lässt sich aber vom ersten Kennenlernen eines Stücks an ein persönlicher, emotionaler, sinnhafter Zugang eröffnen? Sibylle Cadas Artikel „Einstieg in ein neues Stück“* bietet Anregung und Inspiration, exemplarisch einige methodische Ansätze anhand eines konkreten Stücks auszuarbeiten. Dabei steht das Zusammenspiel von Hören, Lesen, innerer Vorstellung, Wiedererkennen und technischer Umsetzung im Mittelpunkt. Die Schülerinnen und Schüler gehen mit der Musik um, machen sie sich zu eigen und entwickeln eine selbstbewusste persönliche Haltung ihr gegenüber.
Meine methodischen Ansätze sind als Anregung zu kreativen Herangehens- und Umgangsweisen mit neuen Stücken zu verstehen und frei kombinier- und variierbar. Viele der Ideen kommen ohne den Notentext aus, vermitteln aber eine sehr konkrete Vorstellung von Form und Melodieaufbau. Wenn nach den spielerischen Zugängen schließlich der Notentext vorgelegt wird, ist bereits eine Beziehung zur Musik aufgebaut. So werden die Noten, statt rätselhafte Hieroglyphen zu sein, zum willkommenen Hilfsmittel.
Das zur Betrachtung ausgewählte Stück Clowns von Dmitri Kabalewski gehört in die Sammlung 24 kleine Stücke für Klavier op. 39 (entstanden 1944) und ist ein Charakterstück für den Unterrichtsgebrauch. Kabalewski selbst war zeit seines Lebens als Lehrer und Musikvermittler tätig. Das Stück ist formal übersichtlich durch eine dreiteilige A-B-A’-Form und melodisch einprägsam durch charakteristische Anapäst-Rhythmen und ständige Wechsel zwischen Moll- und Dur-Terz. Der Aufbau aus melodisch wie rhythmisch sich wiederholenden Kleinstbausteinen eignet sich für die Einführung ohne den Notentext ebenso wie für Leseübungen „aus der Vogelperspektive“: Die Wiedererkennung von gleichen Motiven und das Finden von Variationen wird geübt. Die im Titel vorgegebene Szenerie bietet Anstoß für einen ersten Umgang mit interpretatorischen Fragen.
Bewegtes Hören
Der erste Eindruck geschieht über das Hören. Die Lehrerin spielt das Stück vor und fordert den Schüler auf, sich zur Musik zu bewegen. Durch den ganzen Raum oder am Platz – wie es die Bedingungen zulassen. Wie bewegt sich die Musik und wie bewegt mich die Musik? Was verändert sich im Lauf des Stücks, was bleibt gleich oder kehrt wieder? Der Schüler wird die musikalischen Parameter Tempo, Dynamik und Ambitus intuitiv sichtbar machen durch die bewegte Illustration: Wo im Raum bewege ich mich, am Boden kriechend, durch den Raum schreitend oder in der Luft springend? Sind die Bewegungen wild und übermütig oder fein und verspielt?
* Sibylle Cada: „Einstieg in ein neues Stück“, in: üben & musizieren 4/2005, S. 52-55.
Lesen Sie weiter in Ausgabe 3/2017.