Herbst, Sebastian

Zur (System-)Relevanz musikalischer Bildung und Kultur

Der Kommentar

Rubrik: Kommentar
erschienen in: üben & musizieren 5/2020 , Seite 35

In den vergangenen Monaten wurde ein reger Diskurs über die Systemrelevanz von Berufszweigen geführt. Ein Grund für die zum Teil hitzig geführten Debatten ist das meines Erachtens ohnehin problematische Wort in seiner negativen Umkehrung: Wenn etwas nicht systemrelevant ist, ist es dann gleich systemirrelevant? Ist es damit „bedeutungslos“, „belanglos“, „nicht der Rede wert“ (siehe Duden)?
Interessant ist, dass dieses Wort in der „Verordnung zur Bestimmung Kritischer Infrastrukturen nach dem BSI-Gesetz“, in der die Frage der Systemrelevanz geregelt wird, gar nicht vorkommt. Nach dieser Verordnung sind kritische Infrastrukturen „Betriebsstätten und sonstige ortsfeste Einrichtungen, die für die Erbringung einer kritischen Dienstleistung notwendig sind“ (§1, Abs. 1a.). Kritisch sind Dienstleistungen „zur Versorgung der Allgemeinheit […], deren Ausfall oder Beeinträchtigung zu erheblichen Versorgungsengpässen oder zur Gefährdung der öffentlichen Sicherheit führen würde“ (§1, Abs. 3). Dies gilt laut Verordnung für die Sektoren Energie, Wasser, Ernährung, Informationstechnik und Telekommunikation, Gesundheit, Finanz- und Versicherungswesen sowie Transport und Verkehr.
Die Überlegungen dieser Verordnung auf die Sektoren der musikalischen Bildung und Kultur zu übertragen und auf diese Weise nach einer Systemrelevanz der Bereiche zu fragen, erscheint mir unangemessen und wenig zielführend, da die Verordnung einen gänzlich anderen Zweck erfüllen soll. Selbstverständlich ist musikalische Bildung und Kultur von erheblicher Bedeutung, wie die Initiativen vieler Musikschulen und MusikerInnen sowie der eindeutige Wunsch nach Live-Erlebnissen auf Seiten der Konzert- und MusiktheaterbesucherInnen zurzeit deutlich zeigen. Doch sollte sich nicht die Frage stellen, ob musikalische Bildung und Kultur nach den Kriterien der Verordnung systemrelevant sind, sondern vielmehr darüber nachgedacht und dafür gearbeitet werden, wie diese Sektoren in einer krisenbehafteten Zeit überleben können, damit es auch in den nächsten Jahren, wenn eine Person ein Instrument lernen oder eine Aufführung von Puccinis Turandot besuchen möchte, nicht zu erheblichen Versorgungsengpässen kommt.
Ein Beispiel für den Wunsch nach Aufrechterhaltung dieser Sektoren war die zu Beginn der Corona-Pandemie als Erste-Hilfe-Paket angebotene Soforthilfe für MusikerInnen, deren Konditionen sich jedoch für viele bereits nach kurzer Zeit als nicht hilfreich entpuppten. Aktuell bemüht sich das Förderprogramm, Rettungsprogramm, Zukunftsprogramm, Rettungspaket oder Konjunkturprogramm „NEUSTART KULTUR“ der Bundesregierung – alle diese Bezeichnungen werden auf der offiziellen Seite des Programms verwendet – um die Förderung des überwiegend privat finanzierten Kultur- und Medienbereichs. Und auch die Bundeskulturfonds erhalten zusätzliche 50 Millionen Euro zur Förderung von Projekten, darunter das Stipendienprogramm des Musikfonds e. V. zur Förderung von Recherchen, Kompositionsvorhaben oder zur Entwicklung neuer künstlerischer Arbeiten. Nicht zuletzt sei ein Sonderhilfsprogramm der Landesregierung NRW zur Unterstützung der Laienmusikvereine während der Corona-Krise erwähnt, die durch Ausfälle von Proben und Auftritten in finanzielle Engpässe geraten sind. In der Pressemitteilung dazu heißt es, dass so „zum Beispiel der Honorarausfall einer Ensembleleitung zum Teil aufgefangen werden“ kann.
An anderer Stelle passiert gerade Gegenteiliges: Die Honorarkräfte der Musikschule Friedrichshain-Kreuzberg wurden laut Bericht der taz vom 7. August 2020 von ihrem Arbeitgeber zur Unterzeichnung eines Schreibens aufgefordert, in dem sie ihr Einverständnis für den Verzicht auf ein Ausfallhonorar im Falle von Unterrichtsausfällen bei einem erneuten Corona-Ausbruch geben sollen. Auch wenn viele Honorarkräfte bedauerlicherweise auch in gewöhnlichen Zeiten noch immer kein vertraglich geregeltes Ausfallhonorar erhalten, widerspricht dieses Vorgehen allen Bestrebungen zur Besserstellung von Honorarkräften der vergangenen Jahre. Die gleichzeitig mit dem Schreiben vom Arbeitgeber übermittelte Hoffnung, dass die Lehrenden der Musikschule als Honorarkräfte verbunden bleiben mögen, wird wohl nicht in Erfüllung gehen können, da diese im Falle eines erneuten längerfristigen Wegfalls des Honorars zu einer beruflichen Umorientierung gezwungen sein werden.
Wir sollten also aufmerksam sein und weiterhin zielstrebig für die Anerkennung der Bedeutung musikalischer Bildung und Kultur arbeiten, jedoch unter Verzicht auf die Diskussion über ihre Systemrelevanz. Wollen wir unser vielfältiges Konzert-, Musiktheater- und Musikschulleben aufrecht­erhalten oder gar weiterentwickeln, wird vielmehr relevant sein, was uns die musikalische Bildung und Kultur jetzt und in Zukunft wert sein wird!

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