Fabig, Jörg

Zurück zu den Wurzeln

Die Bedeutung der Rock-/Popmusik bei der Entwicklung ­zeitgemäßer Modelle für die musikalische Bildung

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 6/2010 , Seite 48

Die Bildungslandschaft in der Bundesrepublik Deutschland ändert sich derzeit in einer nie da gewesenen Qualität und Geschwindigkeit. Die Folgen für die Musikpädagogik sollen in diesem Artikel beleuchtet werden.

Bis vor wenigen Jahren war die Schule zu­allererst Ort für die Vermittlung von Fachwissen und Methodenkompetenz. Soziale Kompetenzen spielten insoweit eine Rolle, als dass sie für ein reibungsloses Funktionieren des schulischen Alltags erarbeitet werden mussten. Die musische Bildung der Kinder und Jugendlichen, Werte- und Gesundheitserziehung (Sport, Ernährung etc.) blieb weitgehend dem Elternhaus überlassen. Heute bleiben die Kinder aus verschiedenen Gründen sehr viel länger in der Schule. Dieser fällt damit eine weitaus größere Bedeutung für die gesamte Erziehung zu als bisher.
Im traditionellen Bildungssystem ist die Musikschule oder das Konservatorium Ort der instrumentalen und vokalen Ausbildung. Die Klientel rekrutiert sich zu großen Teilen aus bürgerlichen und gebildeten Schichten. Die Kinder kommen in ihrer Freizeit und aus eigener (oder elterlicher) Motivation und sind bereit und in der Lage, für den Unterricht mehr oder weniger hohe Gebühren zu bezahlen.
Die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die sich in ihrer knapper werdenden Freizeit für ein solches zusätzliches Engagement entscheiden, sinkt schon jetzt und wird sich weiter verringern, je mehr auch im Grundschulbereich das Nachmittagsangebot ausgebaut wird. Es wird zwar immer Eltern geben, die auf die individuelle musikalische Betreuung und Förderung ihrer Kinder großen Wert legen, aber der weitaus größere Teil wird – sofern überhaupt Interesse an musischer Bildung besteht – nach Möglichkeiten suchen, den Bedarf innerhalb des schulischen Rahmens zu decken. Auch die Schulen sind auf der Suche, in ihren Nachmittagsprogrammen musikalische Inhalte zu integrieren. Anders als im Sport, der traditionell eine starke politische Lobby und öffentliche Wahrnehmung hat, ist es im Bereich der musikalischen Bildung bisher nicht gelungen, über Pilotprojekte und individuelle lokale Modelle hinaus tragfähige und vor allem inhaltlich sinnvolle Kooperationsmodelle mit den vorhandenen Bildungsträgern zu entwickeln.
Wie so oft spielt hier natürlich die Frage der Finanzierung eine große Rolle, aber auch Ressentiments und Berührungsängste vor ­allem seitens der Musikschulen, denn die Nachteile, die eine musikalische Bildung im Rahmen der Schule und damit zwangsläufig in der Großgruppe hat, liegen auf der Hand:
– fehlende Individualität in der Instrumental- und Vokalausbildung,
– fehlende Freiwilligkeit, daher wahrschein­lich anfangs geringere Eigenmotivation,
– langsamer Lernfortschritt wegen großer Inhomogenität der Lerngruppe.
Schauen wir auch einmal auf die Vorteile:
– Musikalische Bildungsangebote erreichen nun auch Kinder, die sonst nie erreicht wurden.
– Bei Kindern mit Migrationshintergrund kön­nen die kulturellen Einflüsse der Herkunftsländer neue inhaltliche Aspekte beisteuern und zur Integration genutzt werden.
– Ein Paradigmenwechsel von der theoretischen zur praktischen Musikausbildung kann auch im regulären Unterricht im Schulfach „Musik“ angebahnt und vollzogen werden – eine dringende Notwendigkeit, solange 90 Prozent der Jugendlichen zwischen 15 und 18 Jahren in Deutschland angeben, Musik hören sei ihre wichtigste Freizeitbeschäftigung, gleichzeitig aber 80 Prozent der Jugendlichen in der gleichen Altersgruppe sagen, „Musik“ sei das langweiligste und unwichtigste Schulfach.
Gleichgültig ob man die sich verändernde Situation als bedauernswerten Verlust tradierter Werte empfindet oder als Möglichkeit zu einem Aufbruch begreift – man wird sich der Herausforderung stellen und intelligente, tragfähige Konzepte entwickeln müssen. Hier sollten die Hochschulen eine Vordenkerrolle einnehmen und an den Hochschulen wiede­rum Lehrkräfte an diesem Prozess mitwirken, die die Arbeit in Großgruppen und in schulischen Zusammenhängen selbst kennen gelernt haben. Bereits während der Hochschulausbildung sollten Studierende die Möglichkeit haben, Großgruppenunterricht vor Ort in den Schulen durchzuführen und diesen mit Hilfe ihrer ProfessorInnen und Lehrkräfte kritisch zu analysieren.
Bei der Entwicklung dieser Konzepte wird eine große Herausforderung der Umgang mit sehr heterogenen Gruppen sein: Hier müssen binnendifferenzierte Modelle gefunden und erprobt werden. Eine weitere Notwendigkeit wird sein, die Kinder musikalisch dort abzuholen, wo sie stehen – und hier stoßen wir auf den Begriff der „Popularmusik“. Zweifellos haben die Kinder und Jugendlichen heute im Wesentlichen Erfahrungen im Hören von „Popularmusik“. Dies liegt zum einen an der Omnipräsenz dieses Genres in allen Medien. Zum anderen erzeugen die tradierten Aufführungsformen „Klassischer Musik“ auch Berührungsängste. Es widerspricht der Natur eines kleinen Kindes, 45 Minuten still sitzend Musik zu hören, ohne seine spontane Lust und seine Empfindungen in eigene Bewegungen und Laute umzusetzen. Auch wenn die Konzertveranstalter beginnen, dieses Prob­lem wahrzunehmen und ihm durch offenere Vermittlungsformen zu begegnen, wird sich dieses Dilemma nicht ohne Weiteres lösen lassen.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 6/2010.