Linde, Hans-Martin
Zwiegespräche
für Blockflöte (Alt- und Tenorblockflöte) und Violoncello
Man kann ihn ohne Übertreibung als den Großmeister seines Instruments bezeichnen – und das über bald ein Jahrhundert: Hans-Martin Linde. Geboren 1930, prägte er über viele Jahrzehnte maßgeblich das Bild mit, das der deutschsprachige Raum sich von der Blockflöte machte; als Lehrer an der Schola Cantorum Basiliensis, als Interpret, dirigierend und flötend, vor allem im Bereich der historischen Aufführungspraxis, als Verfasser einer noch immer wegweisenden Blockflötenschule und natürlich als Komponist.
In Zwiegespräche lässt er nun zwei Musiker und drei Instrumente miteinander kommunizieren, denn der erste Teil „Spuren“ ist für Altblockflöte und Cello gesetzt, der zweite Teil „Linien“ für Tenorblockflöte und Cello. Beide Teile jedoch lassen auf ein sehr intensives Gespräch schließen: Auf jeweils bescheidenen drei Notenseiten ist da so ziemlich alles untergebracht, was man an verschiedenen Ausdrucksformen auf Blockflöte und Cello anbieten kann.
So könnte man annehmen, Linde habe hier tatsächlich ein Gespräch nachgezeichnet: Das beginnt mit einem gehaltenen, aber entschiedenen Dialog, in dem schon ein Großteil des Ambitus beider Instrumente ausgereizt wird, mit markanten Einwürfen von beiden Seiten. Ab und an meint man geradezu, einen Part lachen zu hören, mal gehen die Instrumente parallel, mal imitieren sie sich, mal monologisiert einer einen Takt lang, mal fällt einer dem anderen ins Wort. In einem plötzlichen Vivace scheint das Cello sich aufzuregen, die Blockflöte verteidigt sich, beide argumentieren – und enden in Uneinigkeit.
Zu Beginn des zweiten Teils haben die beiden Kommunikanten aber wieder hörbar Frieden geschlossen – harmonisch und agogisch –, diskutieren zwar zwischenzeitlich nochmals recht engagiert, doch scheinen sie sich bis zur letzten Seite in wesentlichen Punkten zu einigen, marschieren gemeinschaftlich voran, ergänzen einander, lassen das Gespräch entspannt aus- und verklingen.
Harmonisch gesehen ist dabei das meiste dieser Unterhaltung nur noch schwer tonal zu verorten, nur wenige Passagen besitzen eine klare tonale Orientierung. Vor allem aber spielt Linde viel mit der Spannung von Dissonanzen im Gegensatz zu plötzlichen Einsprengseln reiner Dreiklänge, über die der Hörer dann geradezu erschrickt. Und unter pädagogischen Gesichtspunkten betrachtet, findet sich hier so ziemlich alles vereint, was SchülerInnen lernen können: alle Lagen beider Instrumente, variabelste Dynamik und Agogik, komplexe und vielfältige Rhythmik, unterschiedlichste Artikulationsarten, wechselnde Taktarten, Tempi, Spielanweisungen, Triller, Glissandi, Vorschläge, Doppelgriffe…
So erschließen sich diese Zwiegespräche sicher nicht beim ersten Lesen oder Lauschen: Mit dieser Musik muss man sich intensiver befassen. Was aber auch beim einmaligen Hören auf Anhieb verstanden werden dürfte: Es handelt sich um musikalische Kommunikation!
Andrea Braun