Herbst, Sebastian
Zwischen Euphorie und Überlastung
Der Kommentar
Mit Erscheinen dieser Ausgabe werden wir uns alle in der wohlverdienten Sommerpause befinden. In diesem Jahr waren wir ganz besonders gefordert, Flexibilität zu beweisen und Neues auszuprobieren. Zum Teil waren wir vielleicht selbst überrascht von uns, von unseren SchülerInnen und von ungeahnten Möglichkeiten, an anderen Stellen haben wir durch Scheitern ein gehöriges Maß an Frustrationstoleranz dazugewonnen. Blicken wir zurück:
Nach kurzem Schock über die pandemiebedingten Musikschulschließungen stellte sich schnell eine gewisse Euphorie ein. Rasant häuften sich die Pressemitteilungen über Musikschulen, die nach eigenen Aussagen „innovativ“ und „kreativ“ mit digitalen Angeboten auf die Corona-Krise reagierten – meist per Videochat. Und wenn wir jetzt schon online sind, lässt sich doch gleich darüber nachdenken, wie auf diese Weise Menschen erreicht werden könnten, die aus unterschiedlichen Gründen nicht an einem Präsenzunterricht teilnehmen können – nicht zuletzt potenzielle SchülerInnen, denen im ländlichen Raum ein eingeschränktes Präsenzangebot zur Verfügung steht, wie es Christin Vogt in dieser Ausgabe beschreibt. Kritische Stimmen – zum Beispiel in Bezug auf die DSGVO wie im Beitrag von Jörg Sommerfeld – hielten sich zunächst noch in Grenzen.
Beachtlich war hingegen das rasch wachsende Angebot an kollegialen Austausch- und Weiterbildungsangeboten, denn nicht lange ließen Unterstützungsangebote in Form von Webinaren, Podcasts und Materialien auf sich warten. Einen solchen Beitrag liefert in dieser Ausgabe beispielsweise Ursula Levens mit ihren Überlegungen zum gemeinsamen Online-Musizieren.
Nach wenigen Wochen mehrten sich aber auch kritische Stimmen: Viele erlebten den Online-Unterrichtstag als besonders anstrengend. Technische Probleme durch instabile Internetverbindungen sind nur ein Grund dafür. Geklagt wurde unter anderem über erhöhte Belastungen durch eine veränderte Kommunikation, die SchülerInnen und Lehrenden ein höheres Maß an Konzentration abverlange. Insbesondere wurde aber die Unmöglichkeit synchronen gemeinsamen Musizierens sowie die klanglich stark eingeschränkte Übertragungsqualität in Videochats kritisiert: „Man muss ja auf das kleinste µ (= Mü) reagieren, wenn ein Student spielt […]. Und das kann ich ja überhaupt nicht beurteilen […]. Also da wird ja so viel klanglich weggeschnitten“ (Professorin Dorothee Oberlinger am 18. Mai 2020 im Deutschlandfunk). Es ist also ein logischer Schritt, dass der Online-Liveunterricht meist schnell durch die Arbeit mit Aufnahmen in asynchronen Lehr-Lernformaten ergänzt wurde.
Neben Klagen über hohe Belastungen sowie mangelnde technische Ausstattung und Klangqualität berichteten Studierende aber auch über schwierige Situationen beim häuslichen Üben, da sich Nachbarn, Familienmitglieder oder MitbewohnerInnen gestört fühlen, das Üben zum Teil verboten oder kein eigenes Instrument in der WG vorhanden ist.
Und jetzt, während der Sommerpause, frage sicher nicht nur ich mich, wie es wohl nach der Sommerpause weitergehen wird. Wann werden wir zu einer Normalität zurückgekehrt sein und wie wird diese gegebenenfalls veränderte Normalität aussehen? Was hat sich in den vergangenen Monaten so bewährt, dass wir es beibehalten oder weiter ausbauen wollen? Wo haben sich Herausforderungen gezeigt, die wir noch bezwingen wollen oder die uns zum Neu- oder Andersdenken anregen und wo gab es Grenzen? Welche digitalen Lehr-Lernformate können das Musizierenlernen bereichern? Was ist eigentlich wirklich neu und innovativ und welche Vorschläge enttarnen sich als Übertragung analoger Vorgehensweisen in eine digitale Welt?
Diese und andere zum Teil nicht neue Fragen regen aktuell einen lebendigen Fachdiskurs an, der hoffentlich auch noch nach der Rückkehr zu einer wie auch immer gearteten Normalität anhalten wird; denn es kann nicht erwartet werden, dass die Musikschule schon nach drei bis vier Monaten einer zwangsverpflichteten Digitalität zu einem Ort geworden ist, an dem digitale Lehr-Lernformate in allen Bereichen selbstverständlich und lernförderlich eingesetzt werden.
Die Sommerpause kommt daher sehr gelegen, um durchzuatmen, die vielfältigen Erfahrungen zu reflektieren, neue Energie zu tanken und mit einem klareren Blick und besser vorbereitet in die zweite Phase zu starten, als es nach der in gewisser Weise überfallartigen digitalen Neuorientierung im Rahmen der Corona-Schließungen möglich war. Wir werden aber auch am Ende des Jahres nicht alle Fragen beantwortet haben – zum Glück nicht, denn unsere Arbeit unterliegt sich ständig verändernden Anforderungen, die unsere Aufmerksamkeit, Reflexionsfähigkeit und Kreativität als lebenslang lernende Lehrende erfordern.
Lesen Sie weitere Beiträge in Ausgabe 4/2020.