Vollprecht, Anselm / Katharina Bradler / Daniel Prantl
Zwischen Neugier, Frust und Euphorie
Erfahrungen mit dem Online-Musizieren
Wie fühlt es sich an, wenn der Klang des eigenen Instruments eine Entfernung von vielen Kilometern in wenigen Millisekunden zurücklegt und am Ankunftsort eine musikalische Reaktion auslöst? Lassen sich gewohnte Musizierformen in den Online-Raum übertragen oder entsteht etwas Neues? Studierende der Hochschule für Musik Dresden haben sich zwei Semester lang den Möglichkeiten des Online-Musizierens gewidmet. Die Eigenheiten des Musizierens über Plattformen wie FarPlay, Jamulus und SonoBus dokumentieren sie in Erfahrungsberichten und Videos.
„Jede hinreichend fortschrittliche Technologie ist von Magie nicht zu unterscheiden“1 lautet ein Sprichwort, das auf den Science-Fiction-Autor Arthur C. Clarke zurückgeht. Mithilfe der Übertragung von Daten über das Internet wird mit dem Online-Musizieren eine soziale Praxis möglich, die die Grenzen des physikalisch Möglichen scheinbar überschreitet. Statt „Magie“ erlebten nach einer 2021 veröffentlichten Studie in Österreich viele Musikschullehrende aber Ernüchterndes: „Eindeutig festzustellen waren ein erhöhter Arbeitsaufwand, eine besonders für musikspezifische Anforderungen unzureichende technische Infrastruktur und der schmerzliche Verlust des gemeinsamen Musizierens.“2 Musizieren scheint eine Praxisform zu sein, die als besonders wertvoll, online aber als schwer umsetzbar betrachtet wird.
An der Hochschule für Musik Dresden haben sich Katharina Bradler (Künstlerisch-pädagogische Ausbildung), Daniel Prantl und Christin Werner (Lehramt Musik) zusammengetan, um Potenzialen des Online-Musizierens nachzugehen. Anselm Vollprecht koordiniert als wissenschaftlicher Mitarbeiter das Projekt „Online-Musizieren und -Unterrichten im digitalen Hochschulraum“ (OnMUdiH)3 von März 2022 bis Anfang 2024. Herzstück des Projekts sind Seminare im Winter- und Sommersemester 2022/23, in denen Lerngruppen in praktischen Musizierversuchen Erfahrungen mit dem Online-Musizieren sammeln. Das Projekt setzt bei den Aspekten an, die während der Pandemie als problematisch und unzureichend beschrieben wurden: Gemeinsames Musizieren im digitalen Raum bei hochwertiger Audio- und Videoübertragung. Als Ergebnisse werden Best-Practice-Beispiele in Videos dokumentiert und eine digitale Handreichung zum Umgang mit Online-Musiziersoftware veröffentlicht.
Was macht (Online-)Musizieren aus?
Gemeinsames Musizieren kann als eine soziale Praxis verstanden werden, die situativ in bestimmten Konstellationen von Personen, Artefakten (Raum, Musikinstrumente etc.) und spezifischen Praktiken (beispielsweise Schlagen eines Gongs, ergriffenes Lauschen) stattfindet. Musizieren lässt sich außerdem in der Regel als ästhetische Praxis kennzeichnen: Statt um die Herstellung von Produkten oder der Verfolgung von außerhalb der Praxis liegenden Zielen geht es den Teilnehmenden um erfüllte Wahrnehmungsvollzüge.4 Je nach kultureller Ausdifferenzierung lassen sich global verschiedene Musizierpraxen unterscheiden, mit eigenen tradierten Praktiken, Artefakten und Atmosphären.
Die besondere Konstellation des Online-Musizierens wird treffend von Philipp Ahner unter Rekurs auf Bruno Latour beschrieben: „Die einzelnen Personen befinden sich also in individuellen Räumen und werden durch den ‚Tunnel‘, den die Dinge bzw. Medien als Akteure in diesem neuen Handlungsraum ‚ermöglichen, anbieten, ermutigen, erlauben, nahelegen, beeinflussen, verhindern, autorisieren, ausschließen und so fort‘ […], erst miteinander in Verbindung gebracht.“5 Digitale Technologien überbrücken die Distanzen und tragen als Artefakte selbst entscheidend zur Ausgestaltung der Praxis bei, besonders in der Vermittlung von audiovisuellen Informationen. Zu fragen ist, unter welchen Bedingungen Online-Musizieren attraktive Wahrnehmungsvollzüge und damit für die Teilnehmenden eine „irgendwie positiv erfüllte Zeit“6 bereithält. Im Folgenden stellen wir Erfahrungsberichte von acht Studierenden vor.
Erfahrungsberichte von Studierenden
Der Umgang mit digitalen Geräten spielt in den Berichten eine zentrale Rolle. So berichtet A.: „Also bevor man auch nur einen Ton gesungen hat, hatte man einiges zu tun. […] Nach dem ganzen Prozedere des Anschließens und Auseinandersetzens mit Technischem mussten noch weitere Einstellungen getroffen werden. Wer ist zu laut? Wer rauscht? Wie ist das mit den Latenzen?“ Ein Berührungspunkt zwischen Mensch und Maschine ist der Kopfhörer zur Übertragung des Audiosignals. Je nach Vorerfahrungen scheint dies entweder wie bei A. ein großes Problem zu sein – „Eine Schwierigkeit war, sich selbst gut zu hören und gleichzeitig auch die anderen über die In-Ear-Kopfhörer zu hören […], was zum einen ein ungewohntes Spielgefühl darstellte und zum anderen eine Herausforderung bezüglich des Klangs und der Intonation mit sich brachte“ – oder wie für B. „gängige Praxis und deshalb kein Hindernis“.
Neben dem geglückten oder konflikthaften Umgang mit technischen Gerätschaften wirken sich Verzögerungen in der Übertragung wesentlich auf die Erfahrung des Online-Musizierens aus. Als Faustregel gilt, dass die Verzögerung in der Übertragung der Audiosignale einen Wert von 30 Millisekunden nicht überschreiten sollte, was im analogen Raum der Übertragung per Schallgeschwindigkeit über eine Entfernung von ca. zehn Metern entspricht.7 A., die mit hohen Latenzwerten um 50 Millisekunden zu kämpfen hatte, beschreibt ihren Umgang damit so: „Um eine gute Aufnahme zu bekommen, habe ich versucht, das eingezählte Tempo durchzuziehen und nicht zu sehr auf die anderen zu achten, damit wir nicht die ganze Zeit ins Schleppen kommen, was automatisch passiert ist.“ Sie ergänzt: „Das spricht allerdings sehr gegen das eigentliche gemeinsame Musikmachen, wenn man bewusst die Mitspielenden ausblendet, damit etwas dabei rauskommt.“
Auch B., der mit ca. 21 Millisekunden gute Latenzwerte erreichen konnte, beschreibt die Notwendigkeit einer veränderten Spielweise: „Für mich war es meist auch anstrengend, da man sehr aufmerksam zuhören, sich gleichzeitig selbst in die Time einordnen und ständig korrigieren muss. Man muss wahrnehmen, wo sich die Mitmusizierenden in der Time befinden und gleichzeitig diese auch etwas ignorieren.“ Bei sehr geringen Latenzwerten rückt dieser Aspekt dagegen in den Hintergrund. C. hebt beispielsweise bei einer Latenz von 14 Millisekunden positiv hervor, es sei „vor allem das Timing positiver ausgefallen als erwartet, da wir uns darum kaum kümmern mussten und man relativ straight geradeaus spielen konnte“.
Beim Online-Musizieren hören die Teilnehmenden variierende Versionen desselben Klangereignisses. Dafür sind zwei Faktoren entscheidend: die Vermittlung durch Zwischengeräte und -stationen und die individuellen Einstellmöglichkeiten im Programmfenster. Die Unterschiede entstehen also sowohl unbeabsichtigt auf dem Übertragungsweg – sei es über Charakteristika des eigenen Audio-Equipments oder die Verarbeitung im Computer – als auch durch bewusste Steuerung der Klangzusammensetzung von Seiten der Teilnehmenden. So schreibt B.: „Es ist schwer, einen gemeinsamen Bandsound zu finden, da jeder eine andere Abhörsituation hat und das Zusammenspiel anders wahrnimmt.“ Das individuelle Mixing lässt sich aber auch positiv als Möglichkeit der Klanganpassung nach eigenen ästhetischen Präferenzen betrachten. D. hebt in diesem Zusammenhang noch einen anderen Punkt hervor: „Bei diesem Szenario geht ein gewisser Teil an Anonymität verloren, da alle Teilnehmenden einen individuellen Audiomix einstellen und einzelne Personen somit nicht selbst über ihre Sichtbarkeit in der Gruppe verfügen können.“
Ein Aspekt, der oft im Zusammenhang mit positiven musikalischen Erfahrungen genannt wird, ist das „Gemeinschaftsgefühl“. Die physische Distanz beim Online-Musizieren lässt sich nicht vollständig ausgleichen. So schreibt A., sie habe „die Musiziersessions weniger als etwas Gemeinsames wahrgenommen“. D. betont: „Unecht war auch, dass man in einer Chorsituation allein war. Das ganze klangliche Ereignis, die Atmosphäre des Miteinanders und letztlich auch die Freude am Singen konnten nicht übertragen werden.“ Positiver beschreibt E., dass „bei den Musizierenden das Gefühl entsteht, dass man tatsächlich miteinander Musik macht“.
Insgesamt lässt sich ein Zusammenhang zwischen technischer Reibungslosigkeit und dem Zustandekommen ästhetischer Praxis feststellen. Auf der einen Seite ist eine gelungene Distanzverbindung bereits für sich ein Grund für Freude und bietet eigene Wahrnehmungsqualitäten. Es entsteht eine gemeinsame Soundatmosphäre und die Möglichkeit, aufgrund von geringen Latenzen unmittelbar aufeinander zu reagieren. Auf der anderen Seite haben technische Schwierigkeiten gleich einen entsprechenden Effekt auf die gesamte Praxis.
Empfehlungen zum Online-Musizieren
Zusammenfassend lassen sich vier Empfehlungen zum Online-Musizieren formulieren:
1. Online-Musizieren benötigt Zeit für das Testen von Hard- und Software.
Es hat sich als hilfreich erwiesen, eine kleinschrittige gemeinsame Einrichtung vorzunehmen. Die Komplexität der Anforderungen steigt mit der Anzahl der Teilnehmenden. Daher empfiehlt es sich, zunächst mit Zweier-Tests anzufangen. Sobald die technische Seite geklärt ist, können Musizierversuche zu dritt oder zu viert folgen.
2. Online-Musizieren sollte als eigenständige Musikpraxis betrachtet werden.
Online-Musizieren kann als neues und eigenes Feld musikalischer Praxis für sich entdeckt werden. So kann es sinnvoll sein, zunächst der „merkwürdigen“ Distanzatmosphäre Aufmerksamkeit zu schenken und dann nach und nach improvisierend auszuprobieren, was sich für einen selbst und die Mitspielenden gut anhört und anfühlt. Dabei kommen zu den gewohnten Instrumenten die Dinge und Medien als „mitspielende“ Instanzen hinzu.
3. Die technischen Bedingungen sollten bei den Teilnehmenden möglichst ähnlich sein.
Im besten Fall können die Mitspielenden auf identische Kopfhörer, Audio-Interfaces, Mikrofone und Computer zurückgreifen. Das hat Vorteile, da Unterschiede in den individuellen Klangerlebnissen verringert werden und weniger Zeit für die technische Einrichtung nötig ist.8
4. Online-Musizieren erfordert die Bereitschaft, mit Unsicherheit umzugehen.
Der Perfektionsanspruch, den nicht nur viele professionelle MusikerInnen an sich selbst stellen, führt dazu, dass sie sich ungern auf „unsicheres“ Terrain begeben, auf dem sie nicht in gewohnter Weise Leistung erbringen können. Beim Online-Musizieren ist stets mit Überraschungen und Verbindungsschwankungen zu rechnen. Selbst wenn alles perfekt vorbereitet ist, kann sich die Erfahrung von Mal zu Mal unterscheiden.9
Insgesamt lässt sich Online-Musizieren in unserem Bericht als Musikpraxis lesen, die vom gelingenden Zusammenspiel der beteiligten Personen, Artefakte und Praktiken abhängig ist. Technische Schwierigkeiten können den „Tunnel“ der die Distanz überwindenden Dinge und Medien zum Hindernis machen. Nur mit technischer Reibungslosigkeit und etwas Verbindungsglück kommt es zu ästhetischer Praxis und attraktiven Wahrnehmungsvollzügen. Positiv gewendet eröffnet sich hier eine neue Möglichkeit des Musizierens, die mit ihrer Unabhängigkeit von räumlichen Gegebenheiten Gelegenheiten für Musizieren schafft, wo dies bisher nicht möglich war. Und vielleicht führt das Einlassen auf die Unsicherheit zu etwas Neuem, sofern wir uns, um mit Clarke zu sprechen, von der Magie verzaubern lassen.
1 Clarke, Arthur C.: Profiles of the future. An inquiry into the limits of the possible, New York 1973, S. 39.
2 Aigner, Wilfried/Hahn, Michaela/Huber, Michael: „MUDIL – Musikalisches Distance Learning: Erfahrungen, Auswirkungen, Perspektiven. Ein Forschungsbericht zu ausgewählten Ergebnissen einer Online-Befragung zum Musikunterricht während des ersten Corona-Lockdowns im Frühjahr 2020, S. 11, https://doi.org/10.21939/mudil (Stand: 30.8.2023).
3 als Teil des Verbundvorhabens „Flexibles und qualitätsgesichertes Lehren und Lernen im virtuellen sächsischen Hochschulraum“ des AK E-Learnings der LRK Sachsen.
4 vgl. Wallbaum, Christopher: „Wenn Musik nur in erfüllter Praxis erscheint. Ästhetische und kulturelle Kriterien für die Untersuchung und Gestaltung von Musikunterricht“, in: ders.: Perspektiven der Musikdidaktik. Drei Schulstunden im Licht der Theorien, Hildesheim 2010, S. 92 f.
5 Ahner, Philipp: „Musizieren im Corona- und Post-Corona-Modus. Digitalität, Digitalisierung und Homeschooling in musizierpraktischen Perspektiven“, in: Stange, Christopher/Zöllner-Dressler, Stefan: Denkkulturen in der Musiklehrer*innenbildung, Münster 2021, S. 80.
6 Wallbaum, S. 92.
7 vgl. McPherson, Andrew P./Jack, Andrew P./ Moro, Giulio: „Action-Sound Latency: Are Our Tools Fast Enough?”, in: New Interfaces for Musical Expression, 2016, https://t.ly/7PXq (Stand: 30.8.2023).
8 Es empfiehlt sich außerdem, parallele Videoübertragung einzusetzen, da nonverbale Kommunikation wichtiger Bestandteil ästhetischer Praxis ist.
9 Sebastian Spicker (Hochschule für Musik und Theater Köln) nannte die Unvorhersehbarkeit des Datenwegs über das Internet bei einem Netzwerk-Lunch treffend „Routing Roulette“.
Lesen Sie weitere Beiträge in Ausgabe 5/2023.