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Fuhrmann, Gregor

Warming up

Didaktische Analyse als musikpädagogische Aufwärmübung

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 5/2023 , Seite 14

Auch wenn gelingender Unterricht in günstigen Momenten immer wieder auf den Beistand intuitiver Ein­gebungen vertrauen darf, treten in einer ­systematischen Didaktischen Analyse eines Musikstücks oftmals ungenutzte Potenziale künstlerisch-pädagogischer Inspiration zutage. Wer ihre flexi­bilisierenden Wirkun­gen an sich selbst erfahren hat, kann die vorweg­nehmende Imagination musikalischer und spieltechnischer Details zu einer bereichernden „gymnastischen“ Routine werden lassen.

In freier Anlehnung an seinen Schöpfer, den Pädagogen Wolfgang Klafki, möchte ich den Begriff „Didaktische Analyse“ als Synonym für die Bestandsaufnahme des musikalischen Vokabulars, der Form sowie der spiel- oder gesangstechnischen Herausforderungen eines Stücks oder Songs mitsamt allen methodisch-didaktischen Konsequenzen für eine vielseitige und flexible Unterrichtsgestaltung verwenden. Auch wenn ihm durch seine intellektuell temperierte Distanz in meinen Augen eine eher unsinnliche Aura innewohnt, erkenne ich in Klafkis Begriff eine wertvolle Aufforderung an Lehrende und all jene, die sich auf dem Weg befinden, das Lehren zu lernen. Da meine explizit musik­pädagogische Konzeption einer Didaktischen Analyse über die involvierende Wahrnehmung klanglicher Strukturen auf eine nachhaltige Verinner­lichung von Musik und Spieltechnik abzielt, sollte meine bevorzugte Beschreibung als „Musikalisch-Performative Imagination“ untergründig stets mitanklingen.

Musikalische ­Imagination

Obwohl uns pädagogische „Sternstunden“ immer wieder als unerklärliche Geschenke der Eingebung erscheinen mögen, erweist sich ihr spontanes Gelingen nicht selten als Folge einer umsichtigen Vorbereitung. Zur Förderung einer ganz bodenständigen Vertrautheit mit den künstlerischen und pädagogischen Potenzialen eines zu unterrichtenden Werks oder Songs bedarf es vielfältiger Einsichten in seine musikalische Beschaffenheit. Da ein gesteigertes Verständnis für Form und Inhalt zudem den entscheidenden Schlüssel zur Lösung spieltechnischer Hürden und interpretatorischer Fragen liefert, möchte ich im Folgenden anhand des leicht zugänglichen Jazz-Duetts Warming up von Lucio Franco Amanti1 eine überwiegend notationsgebundene Didaktische Analyse als ­stimulierende musikpädagogische Aufwärmübung vor Augen führen.
Zum einen geht es mir dabei generalisierend um eine Inspektion all jener musikalischen Vorstellungsräume, denen man in Anlehnung an das Mantel’sche Grundprinzip des musikalischen Übens nach und nach in systematischer Reihenfolge seine „rotierende Aufmerksamkeit“2 zuteilwerden lassen sollte; zum anderen möchte ich ganz konkret aufzeigen, welche musikalischen und spieltechnischen Einsichten bei einem solchen „Rundlauf“ zugunsten eines multiperspektivischen Unterrichts nach und nach an die Oberfläche des eigenen künstlerisch-pädagogischen Bewusstseins gefördert werden können.
Die im Folgenden aufgefächerten Ebenen der Musikalischen Imagination zielen alle auf jenen „musikalischen Plan“, dessen individuelle (Re-)Konstruktion Leonard Bernstein in seinem Konzert für junge Leute zur Vorbedingung eines jeden tieferen Verständnisses klingender Strukturen macht.3 Auch wenn Worte nicht zuletzt im Hinblick auf nachfolgende musikpädagogische Vermittlungsbemühungen immer wieder wertvolle erkenntnisfördernde Wirkungen entfalten, geht es bei unserer Aneignung nonverbaler musikalischer Strukturen in erster Linie um die Förderung eines originären „Denkens in Tönen“.

Form
Die prinzipielle Notwendigkeit, sich vor, während und nach der detaillierten Didaktischen Analyse mit der Gesamtdisposition eines Stücks zu beschäftigen, möchte ich in der resümierenden „Checkliste Didaktische Analyse“ durch die drei Stationen „Form I: Skizze“, „Form II: (Re-)Konstruktion“ und „Form III: Gestalt“ zum Ausdruck bringen. Im frühesten Stadium bildet die Form als grobe „Skizze“ die durch erste Lese- oder Hör-Eindrücke in Gang gesetzten, noch unverifizierten Erwartungen, Vorannahmen und „Top-Down“-Perspektiven der oder des Betrachtenden ab. Ihre sich im Verlauf der Didaktischen Analyse nach und nach konkretisierenden Konturen hängen unmittelbar mit der wachsenden Einsicht in die spezifische Ausgestaltung zahlreicher Aspekte von melodischer Motivik und Phrasenlänge über Akkordfolge und harmonische Zentren bis hin zu Dynamik und Artikulation zusammen.

Weiterführende Materialien zur Erkundung der Improvisation

1 Amanti, Lucio Franco: Jazz Duets. 25 leichte Stücke in der 1. Lage für Violoncello, Mainz 2013.
2 vgl. Mantel, Gerhard: Cello üben. Eine Methodik des Übens nicht nur für Streicher. Von der Analyse zur Intuition, Mainz 21999, S. 173.
3 vgl. Bernstein, Leonard: Konzert für junge Leute. Die Welt der Musik in 15 Kapiteln, München 22007, S. 21.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 5/2023.